text "Erde, Mond" (Ueli Balsiger, Thomas Coraghessan Boyle)

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Erde, Mond

ISWC Code
SUISA Titelcode 2955 542 32
Musik Balts Nill (CAE/IPI 00137.04.78.78)
Text Tom Boyle-Coraghessan (CAE/IPI 00919.41.31.34)
Herausgeber

T. C. Boyle's Geschichte "Erde, Mond" erschien erstmals 1979 im Erzählband Descent of man (deutsch 1995: Tod durch Ertrinken, Hanser Verlag).

Diese von Balts Nill mit allerlei Elektronik vertonte Erzählung wurde durch Rainer zur Linde vorgelesen und erschien erstmals auf der Zusammenstellung Hinter deiner Schulter geht die Welt unter (Töne zu Texten von T. C. Boyle) (1999). Balts Nills damals zweijährige Tochter Selma Klara bediente dabei das Telefon.


1999 Balts Nill und Rainer zur Linde 09:32 "Erde, Mond" Studio-Aufnahme

Produktion Eric Facon, Frank Gerber
Aufnahme 1999. - Tonmeister: Adriano Tosetto
Musiker Selma Klara Balsiger (Telefon), Balts Nill (Buch, Elektronik), Rainer zur Linde (Vorlese-Stimme)
1999 verschiedene Interpreten CD Hinter deiner Schulter geht die Welt unter (Töne zu Texten von T. C. Boyle) CH: Kein und Aber Records 906547-25 / EFA 22757-2 ISBN 3-906547-25-6
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I

Das Haus des Astronauten wird von einer Plage heimgesucht: So sieht es aus:

Die Dinge rosten, bröckeln ab, zerfallen, die Elemente verüwsten: runden Ecken ab und lösen Winkel auf, lassen das Dach durchhängen, waschen den Anstrich von den Schindeln. Wind und Regen, Hitze und Kälte. Die Dinge werden zerstört. Unten im Keller sammeln sich Wasserpfützen, unheimlich und dunkel. Baumwurzeln sprengen die Wände. Oben wellen sich die Fussböden, Tapeten lösen sich von den Wänden, Leitungen quietschen und knarren. Die alte sterilisierte Hündin bringt auf dem Flur einen Wurf zur Welt. In der Toilettenschüssel sitzen Frösche. Grillen auf dem Haferbrei. Fledermäuse. Draussen birst der Teer auf der Strasse, und der Wind reisst die Leitungen herunter. Die Büsche treiben wie magische Bohnenstiele.

Die Frau des Astronauten, die nie gern gegärtnert oder Dinge repariert hat, sitzt in ihrem Zimmer, ein weisses Gewand in ihrem Schoss. Tagsüber webt sie, nachts trennt sie auf. In letzter Zeit sind ihre Fingernägel lang geworden wie Stilette, und das Haar in ihren Achselhöhlen ist dicht wie Moos. Sie kann die Nägel so oft schneiden, wie sie will, sie wachsen sofort wieder nach. Das Achselhaar lässt sich nicht entfernen. Ein gelbgrüner Film überzieht langsam ihre Zähne.

Das Klappern des Webstuhls hallt noch in ihren Ohren wider, doch sie horcht auf die Geräusche im Haus: das trockene Raspeln der Holzwürmer, das scharfe Zischen der fliegenden Ameisen. Das namenlose Rascheln und Trippeln in den Fluren, das Quaken der Laubfrösche, das rostige Knarzen des Holzes. Im Zimmer nebenan fällt etwas zu Boden, Holz schlägt auf Holz. Sie hält den Atem an. Beginnt, ihre Nägel zu kauen. Genau unter ihr, in der dunklen Küche, kriecht eine Spinne durch die feinen weissen Kristalle im Salzstreuer.

II

Zweihundertneununddreissigtausend Meilen weit entfernt reisst der Astronaut die Riegel zurück und schiebt die stählerne Tür auf. Dann schlüpft er durch die Luke, lockert den Griff um die Stange und springt auf den Boden. Er versinkt bis zu den Knien in Mondstaub. Wie ein gottverdammter Ozean aus Seifenpulver, denkt er. Ein Aschenkasten. Aber dann: die Kameras laufen, das Mikrofon rauscht in seinem Ohr. Leute, sagt er. Leute, es ist wie ein Traum. Wie ein Wunder, wie ein Schneesturm in der Kindheit, wie ein - wie ein Gebet. Und dann, mit funktionierenden Organen und schnell durch Arterien und Venen schiessendem Blut, fängt er vor den Kameras an zu tanzen, dreht Pirouetten wie Baryschnikow, die plumpen Stiefel leicht wie Ballettschuhe. Er hüpft in grossen Zeitlupensprüngen durch die Ödnis, hoppelt auf den Fersen zurück, stösst sich an der Hüfte und schlägt ein Rad. Dann fällt er ausser Atem auf die Knie und kichert in seinem Raumanzug. Hinter seiner Schulter geht die Erde unter, eine verhutzelte blaue Erbse in der Tiefe. Er hält einen Daumen in die Höhe und blickt daran vorbei, ein Auge zugekniffen: die Erbse verschwindet. Und dann geschieht etwas sehr Gewöhnliches. In seinem Magen rührt sich das Mittagessen (der Hummer Newburg). Er spürt einen Druck. Gas. Er verändert die Stellung, um es entweichen zu lassen. Das ist ein historischer Augenblick, denkt er.

III

Schatten dräuen, Spinnweben verdunkeln die Ecken, Schimmel streckt eine schwarze Hand über das Fenster. Staub rieselt herab wie Sand in einem Stundenglas, liegt bereits Zentimeter dick auf den japanischen Radioweckern, die ihr Mann sammelt. Sie will die Fernsehnachrichten ansehen, aber es gibt keinen Strom mehr, und der Bildschirm bleibt schwarz. Ein Vogel pickt gegen die Fensterscheibe. Sie blickt von ihrer Arbeit auf, stellt sich alles mögliche vor.

Als sie hinuntergeht, um die Nagelschere zu holen, hängen die Bilder schief an den Nägeln, neigen sich mit dem Haus zur Seite. Sie nimmt eines ab, um es gerade aufzuhängen, und geht auf die zwei Geckos los, die darunter auf dem Putz sitzen, einer auf dem anderen. Ihre Augen glimmen wie Feuer. Von draussen dringt das Rascheln wachsenden Grases herein. Es ist bereits so hoch wie Bambus.

IV

Er trägt ein T-Shirt, stapft schwerfällig in seinen magnetisierten Schuhen herum, tätschelt seinen Bauch. Er presst die Nase gegen das Glas, wird mit unglaublicher Geschwindigkeit vorwärtsgetragen. Und doch meint er, stillzustehen, als würde sich das Raumschiff nicht von der Stelle bewegen. Kein Laut ist zu hören. Kein Heulen von Wind, kein Motorendröhnen. Unheimlich, denkt er. Unnatürlich. Dann blickt er auf die Erde hinunter, auf diesen riesigen blauen und braunen Quilt, der sich unter ihm ausbreitet. Er schüttelt mit wehmütigem Blick den Kopf, dann wendet er sich wieder dem Trainingsgerät zu. Er müht sich ab. Schweiss beginnt sich auf seinen Schlüsselbeinen zu sammeln. Er tritt in die Fahrradpedale, stellt sich vor, er befände sich auf einer französischen Radrennbahn, dem nächsten Verfolger knapp voraus, als er merkt, dass er steif wird, die Trainingshose spannt im Schritt. Er horcht auf die anderen. Sie schlafen - beide - angeschnallt und im Stehen wie Pferde im Stall. Was ist schon dabei? denkt er und zieht die Hose runter. Er beginnt zu massieren, im gleichen Rhythmus, wie er mit den Beinen tritt, sein Atem geht schneller, schneller, Countdown, 3-2-1-

Nie zuvor hat er so etwas gesehen: das Zeug, grosse, geronnene Tropfen davon, sie fliegen durch die Luft, schweben, treiben davon, prallen von der Decke und den Wänden ab, segeln ganz nach oben.

V

Der Ghia des Astronauten holpert die schlaglochübersäte Strasse entlang, springt über Risse, nimmt keine Rücksicht auf Strassenmarkierungen. Er fährt schnell. Der Tachometer ist auf dem ganzen Heimweg im roten Bereich, auch noch auf der Auffahrt, wo die dickblättrigen Pflanzen neben dem Wagen rascheln. Verdammt, denkt er, hier ist alles im Eimer.

Der Garten ist ein Urwald, das Haus nur noch ein Schuppen. Ein schlammiger Strom fliesst die Auffahrt hinunter. Als er die Wagentür öffnet, beginnt ein Schwarm Wespen um seinen Kopf zu schwirren. Er schlägt nach ihnen, sie weichen seiner Hand aus. Keine landet, keine sticht. Sie kreisen lediglich, eine Wolke um seinen Kopf, ein Heiligenschein. Die Sonne lodert wie eine Fackel.

Im Inneren schrecken seine Schritte Nagetiere auf, aus dem Türrahmen rieselt Sägemehl, Pfefferfresser pfeifen im Bücherregal. Die Scheiben sind gesprungen. Mit steifem Rücken umarmt er seine Frau, die Wespen vergrössern ihre Umlaufbahn, um auch den zweiten Kopf einzuschliessen. Als er sich von ihr fortbewegt, folgt ihm der Schwarm. So ist es, seit du weg bist, sagt sie.

In der Garage schleift er die Sense mit weit ausholenden Bewegungen des Wetzsteins. Der Schwarm wispert in seinen Ohren wie atmosphärisches Rauschen. Er legt den Wetzstein zur Seite, holt tief Luft und sprüht sich das Instektenvertilgungsmittel mitten ins Gesicht. Die Wespen fallen zu Boden wie schwere Regentropfen.

VI

Es ist heiss, und die Arbeit ist anstrengend. Er drischt mit seiner glänzenden Sense auf das Dschungelgras ein, die Sonne fängt sich auf der halbmondförmigen Sichel. Bei jedem Schlag stieben Schmetterlinge davon, und die Frösche suchen Zuflucht im höheren Gras. Er mäht, mäht, mäht. Schwitzt. Es ist heiss in der Sonne. Er mäht und hält dann inne, auf seinem Gesicht plötzlich ein Ausdruck der Beunruhigung. Er schaut über seine Schulter, schweisstriefend, befingert die schweren Schwingen auf seinem Rücken. Die wächsernen Flügel schmelzen. </poem>