Text "Die Goethesche Unschärferelation" (Linus Reichlin)
Verdammt! Der 2. Internet-Literaturwettbewerb der Wochenzeitung "Die Zeit" ist beendet, und ich stehe ohne den 1. Preis da. Nicht einmal den Trostpreis (eine formatierte Diskette 1,44 MB) hat mir die Jury gegönnt.
Dabei lebte ich lange in der Gewissheit, der einzige Teilnehmer zu sein, der den ironischen Hintersinn des Wettbewerbs gecheckt hat: Literatur im Internet ist wie Schuhe im Kühlschrank. Folglich konnte man in meinem Beitrag mittels verschiedener Progrämmchen Literatur beschleunigen, komprimieren und vor allem beseitigen. Aber offenbar war die Jury an einem Instrument zur Beseitigung von Literatur überhaupt nicht interessiert! Im Gegenteil, sie vergab den Hauptpreis, mit dem ich schon fest gerechnet hatte, an zwei Teilnehmer, die zur Literatur, die im Internet überflüssigerweise sowieso schon vorhanden ist, noch welche hinzufügten. Diese Beiträge bestehen vollumfänglich aus Text, was bedeutet, dass man sie lesen muss! Und das am Bildschirm und mit der Telefonrechnung im Nacken!
Trotzdem habe ich aus Neid und Wut keine Kosten gescheut und mich durch die in Zeilen angeordneten Buchstabenketten durchgekämpft mit dem Ergebnis, dass ich jetzt schmerzhafte Druckstellen an den Oberschenkeln habe. Lesen tue ich nämlich prinzipiell nur im Bett; wenn man weiss, dass mein Monitor 19,5 Kilogramm wiegt, kann man sich etwa vorstellen, was ich durchmachen musste. Ächzend unter der Last, fragte ich mich, warum diese Leute keine Bücher schreiben. Ich habe mir nämlich unter www.zeit.de auch fast alle der 160 anderen Beiträge angeschaut und bin auf ein Phänomen gestossen, auf die Goethesche Unschärferelation. Die geht so: Wenn Texte wirklich Internet-typisch gestaltet werden, etwa mit animierten Zeilen, Bildern, interaktiven Elementen, sind sie keine Literatur mehr, sondern visuelle Ereignisse, die man mit Freude durchklickt, um zu sehen, was als nächstes passiert.
Wenn andererseits Texte seitenfüllend, nur mit einigen Links versehen, daherkommen, sind sie zwar Literatur, aber nicht Internet-typisch. Also nicht aus verletztem Stolz, sondern wegen dieser Goetheschen Unschärferelation werde ich mich am nächsten Internet-Literaturwettbewerb nicht mehr beteiligen, sosehr die Jury das auch bedauern mag. Die Unschärferelation richtet furchtbar über jene, die nicht erkennen, dass das Internet der natürliche Feind nicht nur der Literatur, sondern von Geschriebenem überhaupt ist. Denn seinem Wesen nach ist es audio-visuell, mit einem starken Hang zum Dreidimensionalen. Es verabscheut Text jeder Art, muss aber noch mit ihm leben, weil Texte am schnellsten durch die verstopften Telefonleitungen kommen. Es wartet auf den nahen Tag, am dem wir über Satellit oder TV-Buchse Megabytes an Bildern und Tönen im Nu empfangen werden. Schwach werden wir uns noch erinnern, dass wir früher am Bildschirm lesen mussten. An diesem Tag wird die Jury auf Knien zu einer verstaubten Festplatte rutschen und sich meinen prophetischen Beitrag ("Klicken Sie hier, um Literatur zu beseitigen") noch einmal anschauen, erschaudernd, bereuend.
Aus: 1997.10.02 Die Weltwoche - Kolumne "Cyberia"