Text "Der Spiesser - ein alter Kampfbegriff, neu definiert" (Linus Reichlin)
Man sieht nur selten eine Möbelwerbung, in der das Drama einer ganzen Generation so schonungslos geschildert wird wie in den Inseraten von Ligne Roset. Hier steht ein Mann um die Fünfzig, Typus Werber in italienischen Lederpantoffeln, vor einem Sofa und sagt: "Mein Sohn hat schon alles zu mir gesagt ausser Spiesser."
Das ist ein unglaublich abschüssiger Satz, man rutscht geradezu die Zeitleiter hinunter zurück in die 68er Jahre, in denen dieser Mann nach Patchouli roch und mit Dutschke, Cohn-Bendit und den Stones eine Kampfgemeinschaft gegen die Väter bildete.
Diese sassen auf geblümten Sofas, die sie zum Schutz vor dem Sonnenlicht mit Plastik überzogen hatten, so dass es knisterte, wenn sie sich nach vorn lehnten, um die Stumpenasche abzustreifen.
Wir Söhne und Töchter aber hockten im Schneidersitz auf dem Boden in unserem Zimmer und inhalierten, wenn wir kein Hasch hatten, den Rauch von Räucherstäbchen. Bei "Speed King" von Deep Purple drehten wir den Plattenspieler auf, um wieder einmal den Alten im Zimmer zu begrüssen und mit ihm über "Affenmusik" zu streiten. Ansonsten sagten wir zu unseren Vätern kaum etwas ausser Spiesser. Es war unser Ziel, anders zu sein als sie, und wir haben das, glaube ich, nicht schlecht hingekriegt.
Dann wurden wir älter und mit uns unsere Progressivität; die Ansichten, die 1968 noch gefährlich und umwälzend waren, hatten jetzt alle. Kürzlich habe ich eine Fünfzehnjährige gefragt, was ein Spiesser sei. Sie wusste es nicht genau, sie fragte: "Ein dummer Mensch?"
An der Street Parade im Sommer sah ich ältere Leute, die aussahen wie die Bünzli (1) meiner Jugend, nur dass sie mit mir am Rand der Parade standen, mit dem Fuss wippten und die bunten jungen Leute photographierten. An ihrem 75. Geburtstag sagte meine Grossmutter etwas Greenpeace-mässiges, ich weiss nicht mehr genau, was. Ich weiss nur noch, dass mein Onkel rief: "Du redest ja wie die Grünen, bravo!"
Und in dieser Zeit, in der Grossmütter Applaus kriegen, wenn sie die Anliegen des Umweltschutzes vertreten, kommt ein modisch gestylter Hornbrillenträger daher und wirbt für ein Sofa mit dem Argument, dass er kein Spiesser ist!
Damit entlarvt er sich als vollkommener Neobünzli (2). Als solcher sitzt er natürlich nicht auf einem geblümten Sofa, sondern auf einem ergonomischen, dessen Kissen mit den Daunen glücklicher Hühner gestopft sind. Auf seinem Balkon steht als Wahrzeichen nachhaltiger Rebellion eine Cannabispflanze, deren Blüten er jährlich kappt und im Backofen trocknet und dann in einem Einmachglas aufbewahrt. Dieses positioniert er auf dem Küchenregal, das gut sichtbar für jeden Besucher ist.
Täglich schlägt er eine kluge Zeitung auf und informiert sich ernsthaft über das Weltgeschehen, wobei er stets auf der Seite der Schwachen steht, der Schwarzen, der Palästinenser, Asylbewerber und Regenwälder. So hat er es in seiner Jugend gelernt, und so wird es auch heute gemacht.
Seinen Kindern verbietet er das Wort "Jugo" und hält ihnen abendfüllende Vorträge über die Gleichheit aller Menschen, bis die armen Kleinen im wabernden Mief aus Selbstgerechtigkeit und Sozialkitsch nach Luft schnappen.
Der Neobünzli hat sich in seiner eigenen Toleranz und Ausländerfreundlichkeit und Frauenquotenbefürwortung genauso behaglich rustikal eingerichtet wie sein Vater sich früher im Antikommunismus und Militarismus. Und wie der Vater hält auch er eine Revision seines Gedankenguts mit zunehmendem Alter für zunehmend unnötig. Auf der kulturellen Ebene verehrt der Neobünzli ihm verwandte Geister wie Hanns Dieter Hüsch, Franz Hohler und Peter Bichsel, deren zeitgenössische Werke bei distanzierter Betrachtung seltsam altbacken und konventionell anmuten. Aber gerade das Moralische, Belehrende gefällt dem Neobünzli, denn belehrt werden ja immer die anderen.
Herrlich, wie in guten alten Zeiten kann er bei Hohler und Hüsch wieder einmal lachen über die holzschnittartig typisierten Böslinge des linken Pandämoniums, über Unternehmer, Sozialverräter, Direktoren, immer auch Rassisten; gern atmet er den Weihrauch ein, der von der Bühne herunterweht und ihn in den Zustand der Erkenntnis versetzt, dass er ein wohlgeratener Mensch ist, der nichts gegen Neger hat.
Er hat nur etwas gegen Computer. Denn der klassische Neobünzli ist in einer Zeit aufgewachsen, in der man Kuhfladen nach bewusstseinserweiternden Pilzen absuchte und überhaupt die Natur anschwärmte als heilsame Alternative zu all den Wasserstoffbomben. Man war allergisch gegen alles mit Drähten, alles Technische, und weil der Neobünzli nicht einsieht, warum etwas, was in seiner Jugend falsch war, jetzt plötzlich richtig sein soll, liest er demonstrativ literarische Bücher.
An Vernissagen, oder wo immer sich der Bünzli einen ansäuft, um etwas lockerer zu werden, schildert er gern die Überlegenheit der Prosa über den Computer. Es war schon immer das Merkmal des Spiessers, dass er sich über Dinge aufregt, die er nicht kennt, und so gibt es kaum etwas Bünzligeres als einen graumelierten Alt-68er, der an der Vernissage einer übersubventionierten Objektkünstlerin gegen Computerspiele so leidenschaftlich wettert wie ehemals sein Vater gegen die "Affenmusik" der Rolling Stones. Aber es kann noch schlimmer kommen. Kein tausendjähriger Muff unter den Talaren kommt zum Beispiel einer einzigen Miene des Adolf Muschg gleich, wenn er in seinem Gesicht die Pfeife verschiebt, damit im anderen Mundwinkel Platz frei wird für einen Aufruf zur Einhaltung der Menschenrechte.
Noch prominenter und um Grade neobünzliger ist der TV-Talkmaster Jürgen Fliege, der sich in seine Gäste so stark einfühlt, dass er hinten wieder herauskommt. Immerhin ist er nicht so radikal neobünzlig wie Peter Handke, der sich als letztes Blumenkind der deutschen Literatur gegen die moderne Welt stemmt, in der es ihm zu viele schnelle Flugzeuge und Fernseher gibt und zu wenige Lagerfeuer, an denen Menschen seine Aufrufe zur Langsamkeit lesen.
Diese Leute verströmen einen Mief, der leider fast unangreifbar ist, weil sie im Gegensatz zum früheren typischen Spiesser ja keinen Hundegagel in den Milchkasten des türkischen Nachbarn legen, sondern ein ums andere Mal das Gute im Menschen vertreten, die Gerechtigkeit, das abgasarme Auto. Sie kreieren Aufklärungskampagnen gegen den Rassismus, bei denen chinesische Köche einen traurig anschauen und sagen: "Ich werde akzeptiert, solange ich gut koche." Es ist alles so gut gemeint und doch so billig, floskelhaft, frömmlerisch, dass man am liebsten einen Wal erlegen oder sonst etwas Unneobünzlihaftes tun möchte.
Aber dadurch wird man sie nicht aufhalten können. Viele von ihnen hocken schon im Bundestag. Und ihren Söhnen wird es nicht erspart bleiben, sich angesichts ihrer auf Designersofas sitzenden Väter ein anderes Wort für Spiesser ausdenken zu müssen.
(1) Schweizerisch für Spiesser
(2) Frauen sind wie immer mitgemeint
Aus: 1997 Die Zeit