Text "Das wahre Wesen der Literatur" (Linus Reichlin)
An einer Filmvernissage habe ich gehört, dass es in Zoë Jennys neuem Roman irgendwie um eine Muschel geht, die wegen der enormen Gewässerverschmutzung nicht mehr richtig tickt - deshalb verliebt sie sich in eine ergraute Fischerin, die kurz darauf nach Bombay flieht, weil es dort angeblich noch Altersheimplätze gibt.
Schöne Story, aber eigentlich ist es mir und vielen anderen eher visuell orientierten Literaturkennern muschelmässig egal, was in Jennys Buch drinsteht. Belletristisch relevant ist einzig der wunderbare Mund der Autorin! Ich war mal in Berlin an einer Zoë-Lesung - seither weiss ich, dass Literatur, wenn sie mit solchen Lippen vorgetragen wird, auch ganz einfache Gemüter erhitzen kann. Man spürt dann förmlich den Puls Schillers in sich, ja es rumort in einem wie in Shakespeares berühmtem Hamsterkäfig.
Davon merkt die Literaturkritik natürlich wieder einmal gar nichts! "Hast du die neuste Besprechung von Jennys Roman gelesen?", fragte mich gestern mein einziger Freund Patrik, und ich sagte: "Nein, aber sicher wird ihr bemerkenswerter Mund mit keinem Wort erwähnt." "Und keine Zeile über ihre fantastischen Augen!", rief Patrik, der übrigens auf seiner Homepage unter www.moderne_literatur.ch sämtliche offiziellen Zoë-Jenny-Fotos zum kostenlosen Download anbietet. Das hat ihm die Feindschaft des gesamten Germanistischen Seminars der Universität Zürich eingetragen. Täglich kriegt Patrik Schand-Mails: "Benjamin Stuckrad-Barre ist viel süsser als Ihre Trivialschlampe Jenny!" oder "Wenn Peter Weber Saxofon spielt, falle ich (männl., 22) in Ohnmacht - aber bei deiner ach so tollen Zoe schläft mir der Fuss ein!"
Im Gegensatz zu diesen intoleranten Germanisten beschäftigt Patrik sich auf seriöse Weise mit dem Werk Jennys, und zwar in einer Zweigwissenschaft namens Zoelogie. "Zum Beispiel untersuche ich gerade", erklärte er mir kürzlich, "den Zusammenhang zwischen gesunder Haut und literarischer Wirkung." Hätte die Jenny - so lautet Patriks Kernthese - von bisher unbekannten, aus dem Regenwald eingeschleppten Bazillen verursachte flechtenartige Verschorfungen im Gesicht, die bei Fernsehauftritten dauernd rot blinken würden, wäre ihr erstes Buch von der Kritik zermalmt und von niemandem gekauft worden. "Weil ihre Haut aber in Wirklichkeit schimmert", schwärmte Patrik, "wie das Innere einer sehr jungen Auster, ist die Kritik begeistert, der Leser hypnotisiert." "So gesehen", sagte ich, um ein bisschen zu fachsimpeln, "wäre es für alle Beteiligten das Beste, wenn Zoë Jenny Moderatorin bei 10 vor 10 würde. Ihr bliebe das anstrengende Bücherschreiben erspart, und wir könnten ihre Haut viel öfter betrachten."
Zum Schluss möchte ich mich bei all jenen, die nicht so viel von zeitgenössischer Literatur und geistigen Dingen verstehen, für diese Kolumne entschuldigen. Immerhin habe ich mich bemüht, schwierige literaturwissenschaftliche Fachausdrücke wie "Telegenität", "Homestory" oder "Autoren-Image-Training" zu vermeiden. Und hallo, Germanisten: Peter Weber ist wirklich total sexy!"
Aus: 2000.01.13 Die Weltwoche Nr. 2 - Kolumne "Moskito"