1996.02 Leben heute "Wehe, wenn der Hase losgelassen"

Aus Ugugu
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Autor Rudei Amstutz
Veröffentlichung 1996.02 Leben heute

Wehe, wenn der Hase losgelassen

Stiller Has: "Volksmusik" einmal anders

Mundart und Musik: seit Mani Matter hält sich Bern in dieser Sparte an der Spitze. Doch es braucht nicht immer Polo Hofer, Züri West oder Patent Ochsner zu sein. Denn es gibt noch das Duo Stiller Has, das dieses Jahr die beiden bedeutendsten Kleinkunstpreise gewonnen hat: den Salzburger Stier und den Deutschen Kleinkunstpreis.

Es ist alles andere als einfach. Stiller Has in Worte zu fassen, ihn verbal zu lokalisieren, ihn quasi in einen schriftlichen Käfig zu sperren. Hasen machen Sprünge, schlagen Haken und sind auch sonst unberechenbar, weil äusserst intelligent. So still allerdings, wie sich dieser Hase nennt, ist er nicht. Natürlich kommt er auf leisen Pfoten daher, und jene, die das Glück hatten, ihm zu begegnen, erzählen dies nicht ohne Stolz und Bewunderung.

1989 konnte man ihn zum ersten Mal sehen - in der Berner Reithalle. Ein schmächtiger Kerl sass damals an der Orgel und begleitete einen wortgewaltigen Akrobaten, der seine Gedanken und Ideen verschachtelt, verspielt und gespielt einem überrumpelten Publikum übergab. Seitdem hoppelt der Hase in dieser Besetzung durchs Land, und wenn er einmal an einem Ort war, wurde dort über ihn vieles erzählt. So viel, dass beim nächsten Vorüberhoppeln bereits viel mehr kamen, um ihm zuzuhören.

Literatur, Kabarett oder Volksmusik?

War die 1991 erschienene CD Der Wolf ist los immer noch mehr einem Insiderpublikum aus Bern und Umgebung bekannt, so fiel der Startschuss definitiv mit der letzten Platte Landjäger. Für Endo Anaconda und Balts Nill war die Schonzeit vorbei - Radiostationen spielten ihre Songs den ganzen Tag hindurch, grosse Zeitungen brachten ebenso grosse Berichte, und das Fernsehen lauerte einem Jäger gleich, um diese klingende Unberechenbarkeit endlich berechenbar auf die Mattscheibe zu bringen.

Was aber ist Stiller Has wirklich? Eine Rockband? Ein Slapstick-Duo? Hochstehende Literatur? Kabarett? Oder gar Volksmusik? Bittet man die beiden Betroffenen, den Mutmassungen ein Ende zu bereiten, so erhält man folgende Antwort: "Stiller Has, das sind Balts und Endo." Etwas ausgeschmückt heisst das: Endo Anaconda, Stimmakrobat und Wortjongleur, und Balts Nill, Trommel, Gitarre, Banjo, Orgel und auch mit allem sonstigen bewaffnet, das auf irgendeine Art zum Klingen gebracht werden kann. Der eine fabuliert, ohne den Inhalt zu verlieren, der andere spielt mit den Klängen, macht Musik und Geräusche, und wenn's sein muss, tönt es halt auch mal wie Rock, Jazz oder Volksmusik.

Volksmusik als Begriffsumschreibung ist gar nicht so schlecht, denn sie halten dem Volk mit ihrer Musik ganz schön den Spiegel vor. Das Aufdecken schweizerischer Eigenheiten ist eine ihrer Spezialitäten, etwa wenn sich in "Giele" drei Kollegen wieder treffen, obwohl sie sich längst nichts mehr zu sagen haben, oder wenn Endo in "Intercity" die hier herrschende Mentalität mit folgendem Satz auf den Punkt bringt: "Hie bisst me sech nid, hie chätschet me sech gägesytig ztod." (Für Nichtberner: Hier beisst man sich nicht, man kaut sich gegenseitig zu Tode). Gegen die Volksmusik sprechen allerdings die fast schon ketzerisch anmutenden Klänge, die Balts Nill als Soundtrack dazu bietet. Und ketzerisch ist es auch, wenn Endo Anaconda "Gäge d Bärge" ansingt, weil die nur rumstehen und nichts tun. Aber auch in solchen Liedern müsste sich der konservative Schweizer erkennen können.

Die Hasen produzieren einen "Moudi"

Das Rumstehen ist dem Hasen sowieso fremd. Platten aufnehmen heisst etwa: sich wie ein Kaninchen in einen Stall sperren lassen. Denn der Hase fabriziert flüssige Lieder. An jedem Ort, an jedem Konzert klingt er ein bisschen anders. Selten wird zitiert, Improvisation und Reaktion heisst die Devise. Das macht den Hasen stark und wird ihn auch noch lange am Leben erhalten.

Im Studio entgehen sie dem Stillstand, indem sie jeweils Nichthasen zu einer Session einladen. Für Der Wolf ist los holten sie sich einen Gitarristen, einen Bassisten, einen Posaunisten und einen Pianisten ins Studio. Live sorgt ja einzig Balts für den richtigen Sound, was sehr eindrücklich wird, wenn er mit dem Fuss die Trommel bedient, mit den Händen Gitarre spielt und sich mit dem Kopf noch um die Orgel zu kümmern hat. Auf Landjäger unterstützte das Basler Werkstattorchester unter der Leitung des ehemaligen Rumpelstilz-Gitarristen Schifer Schafer das Duo, und am 1. April 1996 (kein Scherz!) wird das neue Album erscheinen (Arbeitstitel: Moudi, für Nichtberner: eine männliche Katze), für das sie sich zu einem Quartett vergrössern werden. Und dann, dann folgen wieder Konzerte. Und statt die neue Platte runterzuspielen, werden sich Balts und Endo daranmachen, die Platte über den Haufen zu werfen, die Lieder wieder vom festen Zustand in einen flüssigen zu verwandeln und so dem sich in Sachen Hasenforschung souverän fühlenden Publikum eins auszuwischen.

Dass diese Eigenständigkeit auch in Österreich und Deutschland zu reden gibt, versteht sich von selbst. Daher heimste der Hase in diesem Jahr still und leise auch gleich die beiden wichtigsten Kleinkunsttitel ein: den Salzburger Stier und den Deutschen Kleinkunstpreis. In der Begründung aus Mainz heisst es: "Damit zeichnet die Jury ein äusserst ungewöhnliches Ensemble auis, das mit überwältigender Kraft an dadaistische Darbietungen erinnernde Originalität und schwarzen Humor präsentiert. In der Absurdität ihrer Musik und ihres Spiels spiegelt sich die alltägliche Normalität. Stiller Has ist schrill und schräg - wie das Leben auch - nur vergnüglicher."

Das ist natürlich schamlos untertrieben. Aber so klingt es halt, wenn man grosse Kunst als Kleinkunst betrachtet. Ist Stiller Has überhaupt Kleinkunst? "Nein", würde das Duo sagen, "wir sind Balts und Endo."

Discographie

  • 1989 Kassette Stiller Has (Zytglogge Verlag, Gümligen)
  • 1991 CD Der Wolf ist los (Zytglogge Verlag, Gümligen)
  • 1994 CD Landjäger (Sound Service. Gümligen)

Deutscher Kleinkunstpreis

Der Deutsche Kleinkunstpreis ist die wichtigste Auszeichnung dieser Art im deutschen Sprachraum. Unterteilt in vier Kategorien, wird er seit 1972 vom Mainzer DForum-Theater "Unterhaus" vergeben. Die gestiftete Gesamtsumme beträgt 40'000 Mark. Je 10'000 Mark erhalten die vier Gewinner, die sich aus den Sparten Kabarett, Chanson / Lied und Kleinkunst rekrutieren. Der vierte Preis, der Förderpreis der Stadt Mainz, soll - wie der Name sagt - ausserordentliche Künstlerinnen und Künstler fördern. Dieser Preis geht dieses Jahr an das Berner Duo Stiller Has.

Der erste Gewinner des Deutschen Kleinkunstpreises war vor 24 Jahren der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch. Folgende Schweizerinnen und Schweizer wurden seitdem mit dieser Auszeichnung geehrt: Franz Hohler (1973), Emil Steinberger (1976), Aernschd Born (1980), Kaspar Fischer (1981), Helen Vita (1985), Sybille und Michael Birkenmeier (1986), Pello (1987), Linard Bardill (1989), Mad Dodo (1992) und Stiller Has (1995).

Der Deutsche Kleinkunstpreis 1995 wird offiziell am 25. Februar 1996 im Rahmen einer Feier übergeben. Der Fernsehsender 3sat wird den Anlass live übertragen.