1992.02.20 Der Bund "Stiller Has (Emmentaler Spielzeugrock mit Wiener Schmäh)"
Autor | Bänz Friedli |
Veröffentlichung | 1992.02.20 Der Bund |
Stiller Has (Emmentaler Spielzeugrock mit Wiener Schmäh)
Das Berner Duo Stiller Has ist erstmals auf Platte zu hören: die CD/MC Der Wolf ist los bietet "flüchtige Lieder und fliegende Worte für langohrige Zeitgenossen"
Als Singer/songwriter Bob Dylan sich 1965 beim Newport Festival erstmals eine Elektrogitarre umschnallte, jaulten die Folk-Fundamentalisten auf - möge nicht Gleiches geschehen, wenn Stiller Has, die Stars der Berner Subkultur, nun eine nigelnagelneue CD auf den Markt bringen.
Verrat! Berns Alternativszene muss sie hergeben, die lange als Insidertip gehegten Unterground-Musikpoeten Endo Anaconda und Balts Nill alias Andreas Flückiger und Ueli Balsiger. Dank einer Kassette und reger Auftrittstätigkeit als Stiller Has zu lokalem Kultstatus gelangt, sind die beiden mit ihren Liedern nun über den Ladentisch zu haben: Die CD Der Wolf ist los (Zyt 4298) verewigt neun Eigenkompositionen sowie je eine Vertonung von Kurt Schwitters und Alfred Lichtenstein.
In breitem Berndeutsch, Schriftsprache und Österreicher Idiom wird laut und leise die Vergangenheit verklärt, über die leidig spiessige Gegenwart und das Überleben, die unmenschliche Tier- und die tierische Menschenwelt sinniert - in Klangbildern, Wortfetzen und musikalisch-sprachlichen Cartoons.
"Man kann uns zwischen Jazz und Liedermacherei, zwischen Dialekt und Hochsprache nirgends einordnen, damit tun sich viele schwer", ist Endo Anaconda sich bewusst. Er selbst sehe ein kulturelles Europa, in dem die Distanzen klein geworden sind: so weiss Stiller Has um eine Fangemeinde in Ostdeutschland, wo im März erneut zehn Konzerte anstehen. Derweil stösst diese Art Musik hierzulande nicht selten auf Unverständnis. "Die Leute erkennen den Witz dahinter nicht", befürchtet Anaconda. Dabei erlaube doch gerade die Has'sche Form von Variété, Ernsthaftes neben Kitsch zu stellen. Eine Form, die laut Balts Nill nicht zuletzt deshalb entstanden ist, "weil wir der Materialschlacht überdrüssig waren, die in der Rockmusik entstanden ist." Weg vom Rockbombast war die Devise, welche ihn 1983 zurück zu akustischen Klängen und in kleine Räume gedrängt habe: "Seither", so Nill, "machen wir Zimmermusik".
Damals fielen auch die musikalischen Schranken. Balts mochte nicht länger einsehen, warum sich seine grossen Neigungen, frei improvisierte Musik und moderne Klassik einerseits und das bis zum sentimentalen Schlager reichende Chanson andrerseits, nicht vereinen lassen sollten. Der literarische Punker Endo, den man damals den "Wiener-Ändu" nannte, weil er nach einer Jugend in Klagenfurt und Wien in den frühen achtziger Jahren nach Bern zurückgekehrt war, kam da gerade recht.
Das Unfertige als Konzept
Stiller Has will atmosphärische Momentaufnahme, Jetztaussage sein, ist also nie endgültig. "Ändus Texte", charakterisiert Balts Nill, "sind wie ein zerbrochener Spiegel, dessen Scherben immer neu zusammengesetzt werden." Er selber könne ohnehin weder perfekt, geschweige denn opulent musizieren, stapelt der Multiinstrumentalist tief. Sein Instrumentarium mit antikem Harmonium, Schlagzeugpauke, Kuchenblech und der Ukulele, "die ich als Kind immer so gern gespielt habe", ist denn auch ein rudimentäres, beinahe schäbiges. Ihn habe Hanns-Dieter Hüschs Tonminimalismus stets fasziniert, und es sei wohl kein Zufall, erinnert sich Nill, dass der neue Geist, der nach der Auflösung von Andreas Flückiger und die Alpinisten zu Stiller Has geführt habe, ausgerechnet in einer Soundsession auf Hüschs Original-Orgel entstanden sei. Diese Musik kommt aus dem Bauch und dem Herzen, ist also nicht elitäre Yuppie-Kopfgeburt. Deshalb wohl vermögen Stiller Has bei aller Schrägheit, allem Intellekt zu berühren.
In der Tat haben wir in dieser Stadt etwas derart bedrückend Traurigschönes seit der Blueslegende Chlöisu Friedli nicht mehr gehört: Die existenzielle Zerrissenheit ist hör- und spürbar, das Lachen und Weinen im selben Augenblick, das rastlos Fliehende, in dem doch auch Heimat ist - zumal die Suche danach; die Gemütlichkeit, die den nahen Abgrund anklingen lässt. Stiller Has sind bittersüss, trügerisch schnulzig, zärtlich und böse und alles in einem - diese Platte ist voller Swing, Sex, Witz und Leben. Die beiden sind so ordinär, ausgelassen, doppelbödig, zynisch und, wenn sie etwa "Fruscht" auf "Frühelingsbluescht" reimen, mithin dreist, wie wir es gerne wären und nicht zu sein wagen. Weil sie uns mitunter zu nahe treten, nerven sie auch. Ihre Unmittelbarkeit ist anspruchsvoll und unausweichlich, es lässt sich selbst in ihren Schnulzen kaum schwelgen. Drum wird ein Massenerfolg wohl nicht eintreten.
In diesen Liedern ist nichts heilig, Stiller Has sind von einer geradezu politischen Respektlosigkeit und machen darin vor sich selber nicht halt; "Elvira" ist die bitterböse Abrechnung mit der eigenen Generation, die sich ihre Rockmusik nurmehr in der Enge einer Mietskaserne anhört: "Si nümm so high, si no nid frei, u ou di nöji Linggi isch nümm so nöi."
Melancholie, Wahn und Genie
Ganz so dunkel wie im früheren Repertoire, wo etwa Tschernobyl düster drohte, sind die neuen Stücke nicht. "Schwarzroten Kitsch" habe er den Politmystizismus seines textenden Partners genannt, gesteht Balts Nill, und er sei froh, dass es heute gelinge, mit der Musik eine gewisse Leichtigkeit einzubringen, die jede Aussage auch in Frage stelle. "Wenn das Beklemmende sich in Lachen auflöst", pflichtet Endo bei, "verliert es seinen Schrecken."
In Endo Anacondas Texten ist Melancholie auszumachen und jener stets beinahe ins Irre kippende Humor, die Ausdruck einer - bernischen? - Befindlichkeit scheinen, wie sie etwa ein Adolf Wölfli oder Robert Walser gespürt haben müssen. Sind es unsere Landschaften, welche zum genial-wirren Spiel mit der Gegenwart verleiten und schaurigschöne Bilder evozieren, wie sie Stiller Has so unwiderstehlich klangmalen, dass man sie dafür hassen oder lieben muss? "Im Bernbiet", empfindet Balts Nill, "sind Gemütlichkeit und Wahnsinn ungemütlich nahe beieinander."
Auch Endo Anaconda sind existezielle Abgründe nicht erspart geblieben; Rausch hat sein Schaffen beeinflusst. Heute aber ist es die pure Macht des Wortes: "Das Berndeutsche hat eine ungeheure Potenz in einzelnen Worten!" sagt Anaconda, der als Bub seine Sommerferien im Emmental verbrachte. "Sprache", ergänzt Balts, "kann entlarvend politisch sein; es reicht, Wörter in die Luft zu schmeissen..." Indes, das Bedrängende von Has-Stücken ist nicht allein bernischer Natur. Als Kind habe er im Österreich der Nachkriegszeit den - wenngleich unausgesprochenen und verdrängten - Faschismus gespürt, erzählt Anaconda. "Wir haben mit verrosteten Waffen und Granaten gespielt, aber geredet darüber wurde nicht." Daraus ist ein Text wie "Geh weida" entstanden, den seiner Beklemmtheit wegen selbst der Autor als "ungeniessbar" bezeichnet.
Anerkennung im gallischen Dorf
Wiewohl ungewollt, grenzt sich das Duo gegen alle und alles ab, selbst gegenüber der eigenen, "alternativen" Szene: "I ha ke Zyt, es Jubiläum z fiire, i ha ke Zyt, no lenger z lyre, i ha ke Zyt, zum Boykottiere..." - eine Politik der Verweigerung, die es Stiller Has erlaubt, die Frechheit und Freiheit zu bewahren. Und doch bleibt die Liebe zum "gallischen Dorf" Bern, wo zumindest bis anhin ein tolerantes kulturelles Klima geherrscht habe. "Es ist ein Erfolgserlebnis", gibt Heimkehrer Flückiger alias Anaconda zu, "mit dem, was ich habe, hier angenommen, ja sogar von der öffentlichen Hand gefördert worden zu sein." Im Gegensatz zu andern Städten seien hier viele positive Impulse ungebrochen: "Die Leute der linken Szene sind nicht vereinzelt, halten zusammen im Lorrainequartier oder in der Reitschule." Im übrigen habe ihn die bernische Liederkultur eines Polo Hofer oder Tinu Heiniger durchaus beeinflusst.
Wer sie schon live gesehen hat, weiss: Stiller Has sind ein ungleiches Paar, und das macht mit ihren besonderen Reiz aus; hier der feingliedrige, zurückhaltende stille 38jährige Ueli Balsiger, Lehrer an einem Flüchtlings-Integrationszentrum - da der extrovertiert-mächtige 35jährige Ändu Flückiger, der sein Leben zurzeit als Betax-Fahrer verdient. Der meist bescheiden im Hintergrund musizierende Balsiger fühlt sich dabei aber "immer weniger in einer Statistenrolle" - Stiller Has-Musik entstehe als ganze, in gemeinsamer Arbeit. Balts Nill sagt's kurz und bündig: "Wir sind ein Duo, sind Freunde in der Musik - daneben lebt jeder sein Leben."
Privatleben: Andreas Flückiger ist zu Beginn dieses Jahres Vater geworden. Ob Töchterchen Nina wohl Gefallen an der Musik von Stiller Has finden wird? "Kinder lieben unsere Songs", freuen sich Anaconda und Nill. Eines soll gar mit Has-Liedern sprechen gelernt haben. "Wir machen Spielzeugrock", sagt Nill, "bei uns soll's scheppern; das gefällt den Kleinen." Es scheppert, zum Glück, auch ab CD.
Der Wolf ist los
Seit rund zehn Jahren machen Andreas Flückiger und Ueli Balsiger gemeinsam Musik: auf Caduta Massi folgte Andreas Flückiger und die Alpinisten; diese Formation spielte an Pfingsten 1985 in der Mühle Hunziken die gleichnamige LP ein (FM 85 032). Als Duo Stiller Has machten die zwei Musiker erstmals 1989 mit Auftritten und der Veröffentlichung einer Kassette (Zyt C 970) von sich reden - Titel wie "2 feissi Meitli" und "Vater la mi la gah" wurden zu Independent-Hits. Nun liegt, dank Unterstützung von Stadt und Kanton Bern, erstmals eine CD von Stiller Has vor, aufgenommen mit vier Gastmusikern aus der Berner Szene: Lukas Machata, Gitarre; Christian Rechsteiner, Bass; Andi Hug, Piano; Beni Bamert, Posaune. Der Wolf ist los (Zyt 4298) ist zwar mitunter beinahe poppig arrangiert, behält aber den eigenwilligen Geist, der Stiller Has zum unvergleichlichen kulturellen Aha-Erlebnis macht.