1979.03.15 Stern Nr. 12 S. 106-120 "Ich gebe immer alles"
Ich gebe immer alles
Stern-Gespräch mit Klaus Kinski
Nikolaus Nakszynski, berühmt geworden als der wilde Klaus Kinski, dessen Rezitationsabende Hunderttausende erregten, eigentlich eine Legende der deutschen 50er Jahre, ist wieder da. Und wie: Kinski, heute 52 Jahre alt, hat gerade in Paris als "Nosferatu" in Werner Herzogs Film einen sensationellen Erfolg und zur gleichen Zeit sein zweites Buch veröffentlicht, eine Art Familienalbum unter dem Titel Kinski (Verlag Rogner und Bernhard, 28 Mark).
Seine Jugend war, nach eigenen Angaben, so kaputt wie später seine Karriere: Oft gab es tagelang nichts zu essen, die Ratten waren so gross wie Möpse, die Küchenschaben wie junge Schildkröten. Er wurde zum Mann bei Mutter und Schwester, geblieben ist im späteren Leben sein unersättlicher Trieb. 76 Orgasmen pro Nacht waren für Kinski, nach eigenen Angaben, alltägliche Vorkommnisse, andauernd überkam es ihn: im Flugzeug, im Bordell, im Bus, in der Theatergarderobe, manchmal auch im Bett. Er sass im Irrenhaus und er sass im Gefängnis, er schlug sich mit Fans, Polizisten und Passanten. Aber dieser wilde Kinski bewegte die Massen: Er spielte Theater in Berlin, er zelebrierte Ein-Mann-Shows, in denen er Villon, Rimbaud und das Neue Testament zitierte. Mit dieser Ein-Mann-Wanderbühne füllte er selbst Riesenhallen wie den Berliner Sportpalast. Er drehte über 160 Filme, von Ludwig II. über den Hexer bis zu Leichen pflastern seinen Weg. Er ist zweimal geschieden, aus diesen Ehen stammen die beiden Töchter Pola und Nastassja. In dritter Ehe lebt er mit der Vietnamesin Minhoi und Sohn Nanhoi "Nicolai", 2, in Paris.
Einen "steilen Knick nach oben" machte die Karriere Kinskis, der mit schlechten Filmen Millionen verdiente und wieder ausgegeben hat, seit Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes. Kinski, der schon damals bei den Dreharbeiten "Herzog schon gern erschossen hätte", heute aber froh ist, dass er es nicht getan hat, machte mit Herzog dann Nosferatu (ab 14. April in Deutschland) und Woyzeck.
Mit den Sternredakteuren Michael Jürgs und Alfred Nemeczek sprach Klaus Kinski in Paris. Zunächst schimpft Kinski - graues, kurzes Haar, unruhige Augen, Kettenraucher - auf den Stern. Dort habe irgendein Idiot über seinen Film Nosferatu geschrieben, der nun wirklich keine Ahnung hätte. Weder von ihm, Kinski, noch vom Regisseur Werner Herzog. Sternredakteur Alfred Nemeczek schaut Kinski ruhig an und sagt dann: "Ich war das Arschloch, das sie meinen." Der Rest des Abends verläuft in gespannter Atmosphäre. Doch das sechsstündige Gespräch mit Kinski am anderen Tag zeigt einen präzisen, preussisch pünktlichen und disziplinierten Mann, der sich keine Konzentrationsschwächen erlaubt und am Ende dieses langen Tages bekennt: "Jetzt bin ich leer."
"Komm mit, ich zeig dir das Leben"
Stern: Herr Kinski, für den Regisseur Werner Herzog sind Sie ein Genie. Hat er recht mit dieser Behauptung?
Kinski: Es ist seine Überzeugung, und das sagt er, und ich sage mir: Na gut, okay.
Stern: Welche Vorstellung hat Klaus Kinski ganz allgemein von einem Genie?
Kinski: Gar keine. Es gibt so viele Wörter, die gratis in der Luft rumschweben. Genie gehört dazu. Seit 25 Jahren haben Leute behauptet, gesagt, geäussert, geschrieben, dass ich ein Genie sei. Ich habe den Ausdruck immer nur angenommen als etwas, das kein Schimpfwort war.
Stern: Aber wenn Herzog Sie so lobt, hören Sie das doch nicht ungern?
Kinski: Jedenfalls lieber als aus dem Mund von O. W. Fischer. Ich mochte Fischer immer sehr gern, obwohl er mir nicht mal 50 Mark gepumpt hätte, als ich sie brauchte. Fischer hat als einer der ersten gesagt: "Kinski ist das einzige Genie unter uns."
Stern: Hinter dieser Haltung steckt eine ganz schöne Portion Hochmut.
Kinski: Das mag Ihnen so vorkommen, es stimmt aber nicht - oder nicht mehr. Ich habe jahrelang gesagt, ich hasse die Menschen wie die Pest und möchte irgendwohin, wo keine Menschen sind. Heute weiss ich: Ich wollte das Gegenteil nicht zugeben.
Stern: Sie hatten Ihre ersten grossen Erfolge nicht als Ensemblespieler, sondern als Rezitator, der die Texte grosser Dichter wie eine persönliche Botschaft weitergab...
Kinski: Botschaft - das stimmt vielleicht. Es war aber nicht etwa so, dass ich gesagt hätte: Ich habe eine Botschaft für euch. Sondern ich wollte deutlich machen, dass man selber gar nichts ist, sondern dass man etwas weiterträgt, was von ausserhalb, was vom Universum kommt. Eine Kraft, die man empfängt, die durch etwas durchgeht, die man weitergibt. Wenn man mir nachgesagt hat, es gehe eine ungeheure Kraft von mir aus, dann habe ich geantwortet: Das wöäre doch schlimm, wenn diese Kraft, die ich meine, nicht ihre Wirkung hätte. Ich glaube an diese Kraft. das hat mit Erfolg oder Karriere überhaupt nichts zu tun. Man kann es auch so ausdrücken: Gott war da.
Stern: Sie haben Texte von Dostojewskij, Villon, Rimbaud, Gerhart Hauptmann und Oscar Wilde vorgetragen. Wann sind Sie diesen Werken zum erstenmal begegnet?
Kinski: Zu Dostojewskij kam ich durch russische Freunde, die hatten Schuld und Sühne in ihrer Bibliothek. Ich habe dieses Buch so sehr geliebt, dass ich meine Kinder nach seinen Figuren genannt habe: Pola, Nastassja, Nicolai.
Stern: Ebenso sind Sie in der Welt des genialen Wüstlings und Balladendichters François Villon aufgegangen.
Kinski: Ja, ich kannte jede Strasse, über die er gegangen ist, jeden Stein und roch den Gestank von Pisse auf den Plätzen, als ich die Verse zum erstenmal las.
Stern: Wer hatte denn die Idee, dass Sie mit Ihrem Villon auf Tournee gehen sollten?
Kinski: Ich selber hatte sie. Weil ich zu der Zeit, das war in den fünfziger Jahren, mit keinem Theater mehr was zu tun haben wollte, und weil mich alles angekotzt hat, habe ich halt Tourneen gemacht...
Stern: ... und im Lauf der Jahre mehr als eine Million Menschen erreicht. Fast regelmässig gab's dabei Krawall.
Kinski: Zum Beispiel im Hamburger Theater am Besenbinderhof. Die Leute im Saal haben sich geprügelt, fünf Funkstreifenwagen mussten kommen; der Manager hat fast geheult. Dabei konnte er doch froh sein, dass sich die Leute um der Dichtung willen in die Fresse schlugen.
Stern: Gab's nicht eher Skandal, weil Kinski sein Publikum mit arrogantem, hohepriesterlichem Gehabe herausforderte?
Kinski: Ich habe stets die Wahrheit gesagt, wie Christus, die Pharisäer und Hohepriester waren Sie, die Journalisten.
Stern: Sie würden also heute keinem Kritiker mehr eine runterhauen wollen?
Kinski: Es kommt darauf an, in welcher Verfassung ich bin. Käme er im falschen Moment, würde ich ihn in den Arsch treten.
Stern: Und wenn ein Besucher an der falschen Stelle lacht oder auch nur hustet, wie es oft vorgekommen ist...
Kinski: ... den würde ich beschimpfen, wenn ich sehr aufgepeitscht wäre. Wäre ich in einer anderen Verfassung, würde ich vielleicht gar nichts sagen und in meine Garderobe gehen, bis die Leute sich anständig benehmen.
Stern: Sie teilen also nicht die Auffassung vieler Profis, die sich sagen, wir sind die Komödianten und müssen tanzen, weil das Publikum auch für die Freiheit bezahlt hat, seinen Gefühlen Luft zu machen.
Kinski: Nein. Als ich Gast in Münchhausens Talk-Show war und einer dazwischenquatschte vor immerhin 25 Millionen Zuschauern am Fernseher, da habe ich gerufen: Was ist denn das für ein Marsmensch oder Geisteskranker. Ich bin überzeugt, die Mehrzahl aller Zuschauer waren meiner Meinung: denn ich habe ihnen zu der Konzentration verholfen, die sie im Grunde ja selber wollen. Das Eintrittsgeld berechtigt keinen, das alles in Gefahr zu bringen.
Stern: Gilt diese Forderung auch für den Zuschauer Kinski?
Kinski: Ich glaube, ich würde eher ersticken, bevor ich husten würde.
Stern: Und wenn das Stück mies ist.
Kinski: Dann würde ich still rausgehen. Schlechtes Benehmen halten die Leute doch nur deswegen für eine Art Vorrecht, weil keiner ihnen aufs Maul haut. Vor Jahren bin ich mal im Auto durch Paris gefahren und musste im Quartier Latin plötzlich stoppen, weil an einer Querstrasse eine Horde Studenten Autos umschmeisst. Um nachher sagen zu können, wir hatten unsere Revolution, wir sind auf die Barrikaden gegangen. Dabei war der Anlass irgendein Scheissdreck. Vielleicht war ihnen in ihrer Mensa der Orangensaft nicht gelb genug.
Stern: Halten Sie es denn nicht für legitim, wenn Menschen versuchen, durch Protest ihre Lebensverhältnisse zu verbessern?
Kinski: Aber nicht auf meine Kosten. Sollen die Busfahrer ruhig streiken; ich fahre Auto oder gehe zu Fuss. Aber kein Streik um Pfennige berechtigt etwa die Verantwortlichen eines Elektrizitätswerkes, den Strom abzuschalten, um ein Chaos zu versuchen, Kinder und Kranke in Gefahr zu bringen. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen aus Protest auf die Treppe kacken würde, weil mein Klo nicht funktioniert. Nennen Sie das legitimen Protest, meine Lebensverhältnisse zu verbessern?
Stern: Auf Ihre Tourneen folgten über 160 Filme - Wallace-Krimis, Italo-Western, Bösewichter über Bösewichter. Nur wenige dieser Lichtspiele waren das Eintrittsgeld wert, aber Klaus Kinski war eigentlich nie ganz schlecht - haben Sie sich Ihre Rollen schwer erarbeiten müssen?
Kinski: Nein. Ich habe es ja vorhin schon einmal gesagt: Es ist alles in mir. Ich empfange alles von einer uns alle durchdringenden Kraft. Ich erinnere mich noch an die Vorbereitung auf meine Tournee mit klassischen Monologen. Da sass ich einfach zwei, drei Wochen zu Hause in Berlin und bewegte nur die Lippen. Nie habe ich den ganzen Text laut gesprochen, und den ersten Schrei habe ich ausgestossen, als ich im Sportpalast auf der Bühne stand.
Stern: Bei Proben haben Sie Ihren Regisseuren oft das Leben schwergemacht.
Kinski: Ich habe es im Theater immer abgelehnt, bei den Proben überhaupt dabeizusein, wozu auch. Was sollten mir die Regisseure denn erzählen? Wie ich mich zu bewegen habe oder welchen Gesichtsausdruck ich brauche? Auch bei Filmproben stelle ich mich meist taub; wenn die Kamera läuft, bin ich da. Man sagt vom Rennfahrer Manuel Fangio, dass er seine Rennstrecken immer vorher abgegangen ist, so als wenn jemand etwas mit der Hand abtastet. Er kannte jede kleinste Blase im Asphalt. So taste ich auch jedes Stück, jedes Detail vorher einmal mit meiner Seele ab, mit meinem Bewusstsein, das reicht. Aber hin- und herlatschen, damit die Regisseure auch mal sehen, warum sie keine Phantasie haben, das mache ich nicht mit. Darum wollte ich auch nie ins Ensemble von Bert Brecht. Der hat ja die Leute 120mal übern lassen, wie man ein Glas Wasser auf den Tisch stellt. Oder Kubrick, dessen Schauspieler Nervenzusammenbrüche haben, weil er jede Einstellung 80- bis 120mal machen lässt. Weil er selbst unsicher ist. Oder wie nennen Sie das? Sadistisch? Pervers? Für mich haben die alle einen Hammer!
Stern: Haben Sie Mühe, Text zu lernen?
Kinski: Nein, bei Tourneen hätte ich 35 Stunden hintereinander sprechen können, ohne eine Sekunde Pause zu machen, und alles aus dem Gedächtnis. Das ist ein Training, und das ist auch Veranlagung. In der Schule habe ich mein einziges Lob vom Religionslehrer bekommen, zwei Bonbons, weil ich das ganze Neue Testament auswendig konnte - mit immerhin erst sechs Jahren. Wenn ich heute ein Buch aufschlage, dann habe ich mit einem Blick den Sinn einer Seite fotografiert. Es kommt natürlich darauf an, ob es ein Text ist, den man auf sich wirken lassen will. Schwachsinnige Texte kann man einfach nicht lernen.
Stern: Aber wenn eine Sache Sie interessiert, geben Sie oft auch mehr, als verlangt wird.
Kinski: Ich habe ja gesagt, ich gebe immer alles. Es interessiert mich nicht, was verlangt wird. Bei meinem ersten Film mit Werner Herzog, Aguirre, der Zorn Gottes, musste ich einen Kerl mit einem Buckel darstellen. Das heisst, ich wollte es so. Ich habe es abgelehnt, mir einen Höcker anschnallen zu lassen. Ich war so. Nach dem Drehen war ich durch die unnatürliche Verrenkung meiner Wirbelsäule noch jahrelang deformiert.
Stern: Passiert Ihnen so etwas öfter?
Kinski: Jede Reinkarnation hat ihre Konsequenzen. Es stellt sich eine Art Verwandlung, Metamorphose ein, und die verfolgt mich. So war es auch bei Nosferatu, wo ich Graf Dracula bin. Ich war immer das, was ich darzustellen hatte.
Stern: Besteht bei derart intensiver Versenkung in eine Rolle nicht die Gefahr, dass man später nicht mehr in sein Leben zurückfindet?
Kinski: Die Gefahr, nicht mehr zurück zu können, besteht. Ich werde pausenlos von Millionen Phantasien, Dämonen, Assoziationen auf einmal verfolgt. Ich bin ein König, ich bin ein Bettler. Ich bin ein Mörder oder sein Opfer. Aber ich kann mich darauf verlassen, dass ich in meinem Schicksal aufgehoben bin. Das ist mein Kostüm. Als hätte ich es immer getragen. Natürlich besteht die Gefahr, dass man wahnsinnig wird. Aber andere sind auch in Gefahr. Sie greifen zum Alkohol oder nehmen Drogen.
Stern: Haben Sie jemals im Leben hart gesoffen?
Kinski: Hart nicht - schon aus dem Grunde, weil ich nicht viel vertrage. Auch vor Drogen habe ich einen Horror. Ich muss im Leben immer alles klar sehen, auch wenn es noch so unerträglich ist.
Stern: Sie haben auch zwei Selbstmordversuche hinter sich.
Kinski: Das war nicht, weil ich sterben wollte. Das war, weil ich keine Geduld hatte mit meinem Chaos. Ja, als ich mir im Park einmal 80 Tabletten reingepumpt hatte, bin ich meinem Schicksal begegnet. Irgend etwas hat mir gesagt, dass es noch lange nicht zu Ende ist. Dass ich noch einen Weg zu gehen habe. Ich bin gerettet worden und hüte mich seither vor der Versuchung, Schluss zu machen. Und beim zweiten Selbstmordversuch, wieder mit Tabletten, bin ich auch gerettet worden. Sollte wohl nicht sein.
Stern: Psychologen messen die menschliche Intelligenz an einer Punkteskala, auf der ein Genie mit 138 Punkten notiert wird, aber schon bei 140 der Wahnsinn beginnt. Das heisst, nur zwei Punkte liegen zwischen höchster Intelligenz und beginnendem Irresein.
Kinski: Ihre Geschichte von der Punkteskala kann mich mal. Ich halte Wahnsinn für etwas Relatives. Ich war einmal in Berlin im Irrenhaus und habe den Geruch von Traurigkeit gespürt - so dicht wie Nebelwolken. War ich auch schon wahnsinnig? Vielleicht nicht klinisch. Aber was heisst schon klinisch? Ist man wahnsinnig, wenn man Jesus vor sich sieht, und er reicht einem die Hand und er sagt zu einem: Komm mit, ich zeig dir draussen das Leben? Ich war eigentlich immer bereit, an die Hand genommen zu werden oder einem die Hand zu reichen.
Stern: Sie sträuben sich instinktiv gegen präzise Festlegungen und haben doch in weniger als sechs Wochen ein Bekenntnisbuch geschrieben, das zum Bestseller geworden ist und zumindest in einem fast überdeutlich wird - in ihren Beziehungen zu Frauen. Sie bezeichnen sich darin als "Hurenbock" und beschreiben detailliert, mit wem und wo Sie's überall getrieben haben: Auf Klosettschüsseln, im Flugzeug, auf Wiesen und in Bordellen. Frauen sind darin beschrieben wie zum Verbrauch bestimmte Objekte.
Kinski: Ich habe den Eindruck, dass Sie den Telegrammstil meines Buches nicht verstanden haben. Was Sie sagen, ist eine lächerliche Verleumdung. Absolut lächerlich ist das. Wenn Sie einen Baum umarmen oder unterm Himmel liegen - heisst das auch, Objekte benutzen? Benutzen wäre allenfalls, sich für eine bestimmte Summe missbrauchen zu lassen. Ich höre schon das Stichwort Prostitution. Aber Sie wissen doch so gut wie ich, dass wir alle Prostituierte sind. Also, was heisst schon "benutzen"?
Stern: Es heisst, dass man sich für den anderen nicht verantwortlich fühlt. Wofür fühlt sich Klaus Kinski verantwortlich?
Kinski: Es ist sinnlos, das alles aufzuzählen. Das ändert sich mit der Zeit und von Situation zu Situation. Natürlich ist man für eine Familie verantwortlich. Verantwortlich bin ich auch für einen, der sich neben mir die Pulsadern aufschneidet, ohne dass mir der Gedanke kommt: Aha, jetzt werde ich ein Held, denn ich rufe gleich die Feuerwehr an. Alles, wofür ich verantwortlich bin, das ergibt sich ganz natürlich. Man würde ersticken, wenn man sich im rechten Moment seiner Verantwortlichkeit nicht bewusst wäre. Das alles hat nichts mit offizieller Verpflichtung zu tun. Als ich in München mal vor Gericht gefragt wurde, wann ich das letzte Mal geschieden worden sei, habe ich den Kerl angefahren: Sie gehen mir unheimlich auf den Wecker. Ist es denn ihre Frau gewesen oder meine? Ausserdem kann ich mir Daten sowieso nicht merken.
Stern: Uns ist aufgefallen, dass in ihrem Buch zwar viel von Liebe, aber so gut wie gar nicht von Freundschaft die Rede ist. Haben Sie keine Freunde?
Kinski: Woher soll ich das wissen, wo ich doch nicht einmal genau sagen könnte, was Freundschaft überhaupt ist. Man wird Freundschaft nie definieren können; wahre Freundschaft schliesst vermutlich ganz grosse Gefühle mit ein. Bei den meisten drückt der Begriff nichts als die Panik aus, irgendwann mal eine Stunde allein sein zu müssen.
Stern: Fällt es Ihnen leichter, das Wort Liebe zu definieren?
Kinski: Ich komme mir bei solchen Fragen immer vor wie ein Emigrant, wie ein Emigrant der Sprache. Liebe ist unerklärlich, ich glaube, das Wort ist viel zu schwach dafür.
Stern: Gibt es im Zusammenhang mit Ihren Liebesbeziehungen Dinge, die Sie heute bereuen?
Kinski: Das können Sie auch in meinem Buch nachlesen. Ich habe da gesagt, das einzige, was ich bereue im Leben, ist, anderen Menschen weh getan zu haben, die mir nichts getan haben.
Stern: War das Bücherschreiben für Sie so eine Art Selbstbefreiung von Ihrer Vergangenheit oder warum haben Sie das Buch geschrieben?
Kinski: Ich habe das Buch geschrieben, weil ich das Geld brauchte. Es ist keine angenehme Arbeit, alles so intensiv Erlebte wiederzukäuen, fast schon eine perverse. Als ich das Buch fertig hatte, haben mich die Ereignisse noch fast ein ganzes Jahr danach verfolgt.
Stern: Herr Kinski, Sie haben eine Wohnung in Paris, und das Pariser Filmpublikum verehrt Sie. Könnten Sie sich noch vorstellen, mal wieder in Deutschland zu leben?
Kinski: Ich lebe nicht in Paris, ich lebe nirgendwo, vor allem habe ich nie in Deutschland gelebt; ich habe in Deutschland existiert. Das hat nichts mit den Deutschen zu tun. Ich habe nicht weniger und nicht mehr gegen die Deutschen als gegen jedes andere Volk. Ich finde, dass die Deutschen ein ebenso gutes Volk sind mit allen Möglichkeiten wie jedes andere. Die Deutschen haben ungeheure Talente, und das deutsche Publikum ist absolut phantastisch. Ich habe nie mit Deutschland selbst Schwierigkeiten gehabt, das ist Unsinn. Ich bin in Deutschland lange fehl am Platz gewesen, weil meine Mentalität eine ganz andere ist, und war deswegen weniger fehl am Platz in Italien, weil meine Mentalität der italienischen eher entspricht.
Stern: Denken Sie manchmal mit Zorn zurück an Ihre Anfänge beim deutschen Nachkriegsfilm?
Kinski: Was heisst Zorn. Es waren einfach die Umstände, die mich damals gezwungen haben, mitzumachen. Wenn ich beim Produzenten Horst Wendlandt ins Büro kam und sagte, ich brauche Geld, dann sagte der: Aber natürlich, meine Junge, ich gebe dir welches. Und dann habe ich immer gleich fünf Verträge auf einmal unterschrieben, ohne zu gucken, was drinstand. Mich interessierte bloss abzuhauen. Wie ein Strassenjunge war ich. Bis ich die Verträge abgearbeitet hatte, vergingen Jahre, und Wendlandt wurde Millionär. Doch eines Tages sprang ich auf und sagte: Schluss, weg. Meine Sachen lasse ich hier, den Koffer lasse ich auch noch da. Heute haue ich ab.
Stern: Theaterspielen kommt für Sie zur Zeit auch deshlab nicht in Frage, weil die Gage nicht stimmt. Ist es Ihnen denn möglich, beim Film immer zu kriegen, was Sie fordern? Das sind, soweit wir wissen, um die 10'000 Mark pro Drehtag?
Kinski: Zu der Höhe von Gagen äussere ich mich nicht, auch wenn Sie denken, dass Sie noch so clever sind, wenn Sie mir eine Summe in den Mundlegen wollen. Man muss beharrlich bleiben und verlangen, was man kriegen kann. Wenn ich erreichen würde, dass einer mir zehn Milliarden bezahlt, dann würde ich die zehn Milliarden in die Tasche stecken, ohne mit der Wimper zu zucken. Es gibt da sowieso keine Grenzen oder Massstäbe. Nur wahnsinnige Extreme.
Stern: Seit Ihrer gemeinsamen Arbeit am Film Aguirre, der Zorn Gottes, sagt Werner Herzog, hat Klaus Kinski einen steilen Knick nach oben gemacht. Können Sie das bestätigen?
Kinski: Ich habe das, was man Karriere nennt, in meinem Leben ununterbrochen mit Füssen getreten, zertrampelt, abgebrochen. Aber Herzog und ich haben uns im Lauf der Jahre so angenähert, wie es wohl nur einmal im Leben passiert. Wir haben uns relativ selten gesehen, aber der Kontakt wurde immer intensiver. Ich glaube, dass ich auch mit Roman Polanski gut arbeiten werde. Seit Jahren will er mit mir Shakespeares Richard III. als weltweite Fernsehproduktion machen. Nächsten Sommer werden wir es wahrscheinlich auch schaffen. Genausowenig wie es zwischen dem Italiener Sergio Leone und mir jemals Probleme geben wird.
Stern: In Ihrer gerade erschienenen Bildbiographie sagen Sie, Sie hätten es nie nötig gehabt, sich von Regisseuren wie Pasolini oder Visconti in den Arsch ficken zu lassen, damit Ihr Gesicht auf der Leinwand erscheint.
Kinski: Ja, dazu stehe ich.
Stern: Und Ihre nächsten Pläne?
Kinski: Im Sommer kommt Herzogs Woyzeck in Deutschland raus: Der Film ist fertig, soll aber beim Festival von Cannes uraufgeführt werden. Noch im März fange ich einen französisch-belgischen Film an. Und dann hat Werner Herzogs Produktionsleiter Walter Saxer die Rechte erworben an dieser Spiegel-Geschichte von dem Flieger, der immer unter dem Radar durch in die DDR gezischt ist. Vielleicht kann Claude Lelouch das inszenieren; er prüft gerade den Text.
Stern: Aber mit dem Fernsehen haben Sie wohl gar nichts im Sinn?
Kinski: Warum denn nicht? (lacht) Wenn euer deutsches Fernsehen mir jeden Monat 100'000 für eine Talk-Show geben würde, dann käme ich jeden Monat einmal rüber und würde alle Fragen beantworten. Auch die dusseligsten. Das wäre doch mal 'ne neue Art von Unterhaltungsshow - oder?
Stern: Das befürchten wir auch.
Autoren: Michael Jürgs, Alfred Nemeczek
Leider ist meine Fotokopie dieses Textes so lausig, dass ich nur die Bildunterschriften wiedergeben kann. Im übrigen ist auch eine Abbildung von Klaus Kinskis Reisepass gedruckt. Da steht seine Gesichtsform: oval. Augen: blau. Grösse in cm: 173. Kennzeichen: "Narbe am re. Unterarm"]
- Beim Stern-Gespräch in Paris: Klaus Kinski mit den Sternredakteuren Alfred Nemeczek und Michael Jürgs
- Klaus Kinskis Posen wurden nicht nur durch viele Filme bekannt. In seiner Biographie rühmt er sich als wilden Liebhaber, dem die wenigsten Frauen widerstehen konnten. Derzeit lebt er in Paris
- 1971 heiratete Klaus Kinski in dritter Ehe die Vietnamesin Minhoi, damals Sprachstudentin. Beim Fest im Garten von Kinskis römischer Villa lässt er sich von seiner neuen Frau füttern, küssen, und mit Blumen bekränzen. Kinski: "Genie zu sein, bedeutet für mich, alles zu tun, was ich will"
- Minhoi Kinski mit [...] Nanhoi, fotografiert von Klaus Kinski. In seinem neuen Buch Kinski zeigt der Schauspieler über 120 Fotos aus seinem Privatleben und aus seinen Filmen
- Kinski, der Mann, der die Puppen tanzen liess, im Garten seiner römischen Villa, die er bis vor zwei Jahren bewohnte. In Italien ist er durch unzählige Western zu einem Star geworden, der bis zu 10'000 Mark pro Drehtag kassiert
- Kinskis Sohn Nanho, fast drei Jahre alt, stammt aus seiner dritten Ehe mit der Vietnamesin Minhoi
- "Meine Töchter brauchen meinen Rat nicht, die laufen alleine." Nastassja, die 18jährige aus der zweiten Ehe, dreht gerade mit Polanski in Frankreich. Die 24jährige Pola aus Kinskis erster Ehe - hier in einer Höschen-Rolle auf der Bühne - lebt als Schauspielerin in Berlin
- Klaus Kinski in fast schon typischer Pose bei einer seiner üblichen Publikumsbeschimpfungen: "Früher habe ich alle Menschen gehasst"
- Klaus Kinski mit Tatjana Gsovsky in einer Tanzstudie nach Dostojewskijs Der Idiot in Berlin. Kinski: "Ich liebe die Russen." Mit Texten von Dostojewskij ging er später auch auf Tournee