1975.09.18 Stern Nr. 39 S. 44-50 "Ein Ekel namens Kinski"
Ein Ekel namens Kinski
Der Skandalstar entblättert in einem sein Sexualleben. Ein Bericht von Jürgen Serke
Es gibt ihn noch, den Klaus Kinski, Bühnenschreck der fünfziger Jahre, der in Deutschland von einem Skandal zum andern eilte. Den Ekstatiker unter den Mimen, der wechselweise sein Publikum oder sich selbst in Raserei brachte, um dann mit rüden Worten, Stühlen oder sogar Kronleuchtern um sich zu werfen. Den Deutschen ist Klaus Kinski seit einem Jahrzehnt nach Italien oder wer weiss wo in der Welt entrückt, hat es auf 150 Filme gebracht. Er hat Millionen verdient und sie auch ebenso schnell wieder verpulvert. In einem Leben, das nun schon 48 Jahre währt und das dennoch ein einziger Amoklauf war. Hierzulande hat man ihn immer mehr als einen Fall für die Psychiatrie angesehen denn als einen exzellenten Schauspieler, der er ist.
Warum? Die Antwort gibt Klaus Kinski jetzt als Autor eines autobiographischen Buches mit dem Titel Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund (Verlag Rogner & Bernhard, 392 Seiten, 29,80 Mark), das in diesen Tagen auf dem deutschen Buchmarkt erscheint. Da ist kaum eine Zeile reflektiert. Da erzählt einer, was er erlebt hat. Fuckten, Fuckten, Fuckten. Da will einer geliebt werden, mit der Brechzange, auf Teufel komm raus. Und was immer er sich da packt an Frauen - es ist zum Kotzen. Eine ständige Verwechslung der Liebe mit sexueller Potenz. Da gibt es weltmeisterliche Leistungen, bis zu 76 Orgasmen in einer Nacht. Ein Buch hat sonst einen Höhepunkt, dieses hat Tausende.
Am Ende des Buches ein Traum, eine kindliche Wunschvorstellung. Abschied vom bisher gelebten Leben. "In der Bretagne werde ich ein Schiff bauen lassen. Ich werde es nennen: Ship under god." Einen modernen Einmannsegler. Die Yacht soll 15 bis 18 Meter lang werden. In zwei Jahren will er aufhören, Schauspieler zu sein, will er - wie er sagt - "die grosse Reise" antreten auf dem Meer: "Wenn schon sterben, dann unter der grossen Welle, die einen begräbt." Der Traum eines Kindes, das in die Jahre gekommen ist. Und ein Buch, in dem gegen das Sterben in einer zivilisierenden Welt angeschrieben wird - mehr unbewusst als bewusst.
Klaus Kinski heute: "Ich habe darunter gelitten, dass Nijinsky das Leben tanzen musste, Maillol musste es in Marmor meisseln, Beethoven musste es komponieren und Dostojewski musste es in Romanfiguren bearbeiten. Warum? Warum nicht wie Christus in lebendigem Fleisch? Ich habe die Sinnlosigkeit meiner Tätigkeit erkannt. Der Schauspieler Kean schrie den Leuten, die geradezu geil danach waren, ihn als Hamlet oder Romeo, Richard oder Othello leben und sterben zu sehen und ihn immer wieder zwangen aufzutreten, ins Gesicht: Ihr Vampire! Ich muss jeden Tag auf der Bühne sterben, damit ihr leben könnt!"
Verhuscht und verlebt spricht Klaus Kinski von den Millionen anderen, die zerfressen und ruiniert werden. Nein, er meint nicht sich: "Ich bin gesund. Ich glaube, dass ich krepiere, irgendwann. Aber nicht, dass ich senil werde. Ich möchte 80 Jahre alt werden. Aber mit 80 auf beiden Beinen noch stehen und das Segel bedienen können. Auch 150, wenn mir das gelingen sollte." Und er erzählt, wie gesund er heute lebt. In dritter Ehe mit einer Vietnamesin verheiratet, hat er sich auf die weitgehend vegetarische Kost ihres Landes umgestellt. Kein Steak rühre er mehr an. Von Alkohol wolle er nichts mehr wissen. Nur das Rauchen hat er sich noch nicht abgewöhnt. "Damit ist Schluss, wenn ich auf dem Schiff bin", sagt er und zündet die nächste Zigarette an.
Was ihn zerfressen hat, er will es ungeschehen machen mit der Erfüllung eines Wunschtraumes. Das Geld dazu hat er. Und er will noch einmal in den nächsten zwei Jahren bare Münze mit Filmen scheffeln. "Schützen vor dem, was einen vernichtet, kann man sich nur mit Geld", sagt er. "Aber die Menschen können kein Massstab sein für die Existenz. Was schert mich die Menschheit. Ich will wissen: was bin ich? Alles andere ist doch nur Beschäftigungstherapie oder Verzweiflung. Warum beschäftigen sich die Leute mit Politik? Weil sie nicht klarkommen mit sich selbst. Das einzige ist doch, Raum zu haben, atmen. Und zu sagen, scheiss doch auf eure Phrasen, die ihr von morgens bis abends drescht. Wie lang ist mein Leben? Jeder stirbt. Das Leben ist ziemlich kurz. Lasst mich doch atmen. Lasst mich doch in Ruh mit eurem Dreck."
Von dem russischen Schriftsteller Dostojewski spricht Klaus Kinski. Von jenem Augenblick, als der Dichter hingerichtet werden sollte und vor dem Hinrichtungskommando wie mit einem Zeitraffer noch einmal sein ganzes Leben blitzartig vor Augen sieht, ehe er dann doch begnadigt wird. So sei es ihm, Kinski, ergangen, als er sein Buch geschrieben habe. "Jedes Zusammensein mit einer Frau war doch bei mir meistens ein Weiterhetzen. Wenn ich ein Mädchen umarmte, habe ich doch immer schon an das nächste gedacht. Zur Zärtlichkeit war da keine Zeit. Ich musste weiter, immer weiter. Heute ist das vorbei. Ich bin seit vier Jahren verheiratet, mit Minhoi, einem Mädchen aus Vietnam. Und es ist noch alles wie am ersten Tag."
In seinem ganzen Leben hat Klaus Kinski immer tiefer Luft geholt, als die Lungen fassen konnten. Ja, er hat wild um sich geschlagen, wenn man ihn nicht akzeptieren wollte. "Viele Dinge in meinem Leben würde ich nicht wiederholen, weil sie dumm waren, weil sie aus Unerfahrenheit geschahen. Aber warum kriegt ein Zuchthäusler einen Koller und schlägt einem Wärter in die Fresse, auch wenn er dann in Dunkelhaft muss? Doch nicht deshalb, weil er sich ausrechnet, ich bin so pervers, in Dunkelheit zu kommen. Im Augenblick befriedigt es ihn, dem in die Fresse zu hauen. So hab' ich es in meinem Leben auch getan."
Heute hält er sich für cleverer, und er weiss, dass er nicht ewig mehr von der Substanz leben kann. "Wenn mich früher ein Polizist auf der Strasse ansprach, hab' ich immer gedacht, hau ich ihm in die Fresse oder hau ich ihm nicht in die Fresse. Weil ich immer ein Typ für diese Leute war, angequatscht zu werden." In seinem Buch schildert er die Prügelei mit Münchner Polizisten, die ihm untersagen wollten, ein Mädchen auf offener Strasse zu küssen.
Klaus Kinski kam 1926 in Zoppot zur Welt, als Kind polnischer Eltern. In Berlin wuchs er auf, in ärmlichsten Verhältnissen. Der Vater, ein Opernsänger, war meistens stellungslos. Zu sechst lebte die Familie - die Eltern, seine drei Geschwister und er - in einem Bretterverhau, und selbst dafür reichte das Geld für die Miete nicht aus. Sucht man in seinem Buch nach einem Liebesbekenntnis, dann findet man es allein in der Schilderung seiner Eltern.
"Mein Vater tritt immer als feiner Pinkel auf, um seine Armut zu verbergen", heisst es da. Und: "Ich weiss also, dass mein Vater bestenfalls als harmloses Schwein betrachtet wird. Das tut mir weh. Denn ich habe meinen Vater lieb und mir so sehr gewünscht, dass er den Leuten Angst einjagt. Wenn man arm ist, hat man keine andere Waffe, als seinem Nächsten Angst einzujagen." Und: "Mein Vater muss einsehen, dass er als Dieb nicht in Frage kommt. Er ist nicht abgebrüht genug, das ist es. Ich bin erst fünf Jahre alt. Aber ich bin ein Strassenjunge. Ich lerne Stehlen gründlich und werde nie gefasst."
"Nie geht mein Vater in eine Kneipe", schreibt Kinski, "oder gibt sonst Geld für sich aus. Um die paar Pfennige, die meine Mutter sich vom Munde abspart, nicht anzutasten, hat er sogar das Rauchen aufgegeben. Er leistet sich nicht einmal ein Bier und liefert selbst jeden Pfennig, den er durch Aushilfsarbeit verdient, zu Hause ab."
Klaus Kinski hört die Mutter verzweifelt schreien: "Ich will weg von hier, weg! Weg!" Und die Mutter denkt an die Ratte von Vermieter: "Nimmt meine Mutter seine Kredite an, so verstrickt sie sich vollends, bis sie nur noch mit ihrem nackten Leib bezahlen kann. Lehnt sie ab, verhungern und erfrieren wir, weil er uns den Laufpass gibt. Oder er zeigt uns an. Oder beides." Und der junge Klaus Kinski denkt sich: "Ich hätte Lust, in eine grosse Bank zu gehen und mit vorgehaltener Pistole den Kassierer zu zwingen, mir alles Geld bis auf den letzten Pfennig auszuhändigen. Wenn man Alarm schlägt, würde ich wie ein Raubtier auf sie losgehen. Ein einzig wirklicher Kampf und dann Schluss!"
Als Fünfjährigen bringt die Mutter Klaus Kinski in ein Heim - in der Hoffnung, dass er dort genügend zu Essen bekommt. Doch satt wird er auch dort nicht. Er schreit nach seiner Mutter: "Als sie endlich da ist, bin ich halb verrückt. Ich kralle mich an ihr fest, als wolle ich in ihren Mutterleib zurück."
In der Schule macht er die Erfahrung von "Angst und Gemeinheit". Ein paar Monate Gymnasium. Dann wird er gefeuert. Aushilfsarbeiten in einer Wäscherei, als Schuhputzer, als Strassenfeger und als der Junge, der für Leierkastenmänner Geld sammelt. "Ich klopfe Teppiche, bis ich in Staubwolken ersticke. Mit jedem Schlag schlage ich etwas von meiner Armut tot." Als Leichenwäscher erinnert sich Klaus Kinski an folgendes: "Ich soll ein siebnjähriges totes Mädchen entkleiden, um es zu waschen, und ihr dann ein bereitgelegtes Kleidchen überziehen. Keine Mutter ist zu sehen, kein Vater. Das Mädchen hat einen Teddybär im Arm. Ich müsste ihr den Teddy, an dem sie sich im Tode festgeklammert hat, erst entwinden, um sie zu entkleiden." Das könnte er nicht, sagt er zu den Leichenträgern: "Einer der Träger zerrt vorsichtig an dem Teddy, den das Mädchen nicht loslassen will. Dann rüttelt er. Vergebens. Als er es mit einem Ruck versucht, richtet die Tote sich durch die brüske Bewegung auf, als wollte sie sagen: Da könnt ihr lange rütteln!" Und Kinski läuft in Panik davon.
Als 17jähriger wird er Ende 1944 zum Wehrdienst eingezogen, haut ab, wird gefasst, soll hingerichtet werden, entkommt wieder, landet in Gefangenschaft und erfährt, dass sein Vater im Krieg gefallen, seine Mutter beim Tieffliegerangriff umgekommen ist. Er ist geladen mit Aggressivität: "Ein Mörder hätte ich werden können, ein Mörder im Affekt." Bei seiner Entlassung aus der Gefangenschaft gibt er sich als Schauspieler aus - seine Alternative, der Kriminalität zu entkommen. Da konnte er sich ausleben, da hat er sich ausgelebt. Da konnte er alles sein, um sich zu behaupten, ohne eine bürgerliche Autorität anzuerkennen. Er macht Karriere.
Es folgen die Tänze auf dem Seil ein Leben lang. Im Salto mortale nach vorn: Weiber, Hosianna! Salto mortale rückwärts: Hosianna, Weiber! Klaus Kinski: "Ich klaue mir die Mädchen, wie ein Fuchs die Hühner stiehlt." Mit phallischer Saftigkeit rast er durch sein Leben und nun auch durch sein Buch. Er leistet sich alles, was Geld un Frauen hergeben können. Er kauft sich Maseratis und Rolls-Royces, fährt sie zu Bruch oder verschleudert sie wieder. Er mietet sich in Rom an der Via Appia ein, in einer einstigen Kirche. Er versammelt Bedienstete und ein Gefolge um sich, das untertänig Beifall klatscht und nebenher den Kaviar bei ihm nassauert.
Er reist um die Erde. Er verschenkt zu Weihnachten sein Geld an Zigeuner. Im Verprassen übertrifft er den Jet-set durch seine Leidenschaftlichkeit. Er schläft mit Verkäuferinnen, mit Millionärstöchtern, mit Huren, mit alten und jungen Frauen, mit jeder, die ihm in den Weg kommt. Er realisiert einen Bedienungstraum, in dem er sich jede Frau, die er gebraucht, nicht anders als hochbeglückt vorstellen kann. Eros scheint dem Kellerkind Kinski nie begegnet zu sein.
Als Schauspieler erkennt er niemanden an als sich selbst. Es ist sein Wissen und seine Erfahrung, die er einbringt. Als er 20 war, sollte er den Claudio in Shakespeares Mass für Mass spielen. Jener Mann entjungfert ein Mädchen und wird dafür zum Tode verurteilt. In der Kerkerzelle hat er Visionen, wie die Würmer seinen Leichnam zerfressen. Für diese Rolle schleicht sich der besessene Kinski nachts auf Friedhöfe und steigt in fremde Gruften ein: "Ich lehne mich an die mit Planen überdeckten Särge, ich lege mein Ohr auf die Gräber und spreche mit den Toten, die mir keine Antwort geben. Ich muss die Antwort auf eine andere Weise finden."
Die Rolle des Claudio hat er gespielt - aber hat er auch die Antwort gefunden? Den herkömmlichen Tod sieht der fast Fünzigjährige nun selbst vor sich. Mit der Flucht aufs Meer will er dem fabrikmässigen Sterben entgehen, richtet er sich gegen dieses Sterben, das er mit den unzähligen Abbrüchen seiner Beziehungen zu Frauen in einer ganz anderen Weise dauernd produziert hat. Begriffen hat er's noch immer nicht. "Für mich war es, wenn ich auf eine Blume trat und die Blüte herunterfiel, als wenn es ein Kinderkopf wäre", so spricht er über die Natur, nicht von den Frauen.
Noch immer marschiert jenes endlose Land mit ihm, in dem die Jungfrau gestorben ist. Klaus Kinski hat im Grunde einsam und verloren Tänze der Fruchtbarkeit aufgeführt. Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund ist der schöne Titel zu einem Lebensreümee voller Jauche aus Panik und Existenzangst. Ein Abenteuer dieses Jahrhunderts, gewiss. Aber ein Abenteuer, das seinen Seemann nicht fand.
Autor: Jürgen Serke
Leider ist meine Fotokopie dieses Textes so lausig, dass ich vorerst nur die Bildunterschriften wiedergeben kann:
- Seit vier Jahren ist Kinski mit Minhoi, einem Mädchen aus Vietnam, verheiratet. Zuvor scheiterten zwei Ehen
- "Sie hat ein Talent zur Liebe, wie ich es noch nicht kannte", behauptet Kinski von seiner dritten Ehefrau
- Sie kocht, und er isst mit Stäbchen Fernöstliches. Vom Alkohol ist er weg, sagt er, vom Rauchen noch nicht
- In dem Cocteau-Stück Die menschliche Stimme trat Kinski als Solist und als Frau auf. Das wurde 1949 in Berlin als Ärgernis empfunden
- Bösewichte und Psychopathen waren sein Fach im deutschen Film: hier mit Maria Vincent in dem Krimi Das Geheimnis der chinesischen Nelke
- Als Ritter voller Furcht und Tadel wirkte Kinski 1972 am Amazonas in dem Film Aguirre (Der Zorn Gottes)
- Stumme Paraderolle der Berliner Festwochen 1975 [?]: Kinski als Der Idiot im gleichnamigen Ballett von Hans Werner Henze
- Von Kinskis zweiter Ehefrau Ruth, die heute in München lebt, stammt die 14jährige Tochter Nastassja. Sie spielte schon in mehreren Filmen mit
- Pola Kinski, 22, tritt in diesen Wochen im Hamburger Malersaal als "Mädchen ohne Hände" in der Märchen-Satire Grimm auf