Text "Der grösste Johann aller Zeiten" (Linus Reichlin)

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Immer wieder fragen mich die Leute: "Und was halten eigentlich Sie von Goethe?" "Nun", sage ich jeweils, "der Mann ist tot. Jetzt muss man sich fragen, wie es dazu kam." "Das weiss man ganz genau", sagen die Leute, "er starb im Bett." "Dann ist ja alles in Ordnung", sage ich und will gehen. Aber die Leute rufen: "Sie können also nichts mit ihm anfangen?" "Doch, doch", sage ich, "Faust, sehr schön, vor allem der Schluss. In der Mitte hängt es ein bisschen durch." "Der Faust", sagen die Leute und betonen jedes Wort, "ist eines der grössten Werke der Weltliteratur!" "Kann sein, aber in der Mitte", beharre ich, "gehen die Zuschauer immer raus." "Ja um Himmels willen", rufen die Leute, "Sie meinen die Theaterpause!" "Ich meine nur", sage ich, um die Leute zu beruhigen, "dass wir unseren Kindern wieder mehr von Goethe erzählen sollten.

Zum Beispiel, dass er sich in den Ferien in Italien nicht auf den Boden geworfen und so lange herumgekreischt hat, bis man ihm den verdammten Dinosaurier-Schwimmgurt kaufte!" "Sie weichen vom Thema ab", sagen die Leute und fügen hinzu: "Es ist kein Verbrechen, wenn einem Goethe nichts bedeutet. Sie kennen dann wahrscheinlich eher diesen... Arnold Schwarzenegger?"

"Goethes Altersperiode", sage ich schnell, "begann ja laut Lexikon mit dem Sturz Napoleons. Es ist für mich ganz wichtig, das zu wissen." "Und warum?", fragen die Leute argwöhnisch. "Weil die Altersperiode von uns Normalsterblichen", sage ich, "mit dem Sturz vom Randstein beginnt. Seine aber - und das zeigt mir, dass er eine bedeutende Persönlichkeit war - begann wie gesagt mit dem Sturz Nap..." "Ersparen Sie uns diesen Kalauer!", unterbrechen mich die Leute. "Goethe ist und bleibt aktuell!", rufen sie. Dann pudern sie sich die Haare und fahren ins Theater, wo gerade Iphigenie auf Tauris gezeigt wird, ein topaktuelles Stück, in dem der Pudel einer schwindsüchtigen Gräfin während des Dreissigjährigen Kriegs vollkommen durchdreht, weil er den Kanonenlärm nicht erträgt. Nämlich beisst der Pudel dem bei der Gräfin zu Besuch weilenden Baron de la Motte ein Stück Hand ab, worauf der Baron die berühmten Worte sagt: "Liebst du mich?" Daraufhin beschwört die Gräfin in ihrem Boudoir hustend den Teufel, bietet ihm die Seelen von zehn gefangenen Schweden, wenn er die Hand des de la Motte wiederherstellt, die dieser so trefflich über ihren kranken Hals zu führen wusste. Am Schluss ersticht sich die Gräfin auf Rat des Teufels mit einem Kerzenständer, wodurch sich das Stück noch ein bisschen in die Länge zieht.

"Es war eine eindrückliche Inszenierung", sagen die Leute und klopfen sich den Staub von den Achseln, "finden Sie nicht auch?"

"Es war", sage ich, "wie sieben Jahre im Militärgefängnis von Istanbul, mit dem Unterschied, dass man dort wenigstens etwas zu essen kriegt." "Ach, lecken Sie uns doch am Arsch!", sagen die Leute, aber sogar das wird bei ihnen zum Zitat.



Aus: 1999.09.09 Die Weltwoche Nr. 36 - Kolumne "Moskito"