Text "Führung durch den Schlachthof" (Linus Reichlin)

Aus Ugugu
Version vom 15. September 2006, 16:12 Uhr von Michi (Diskussion | Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Im November, morgens ums sechs, stockdunkel, kalt bis auf den Stockzahn; gewissermassen zur Impfung gegen Sentimentalität verzehrte ich auf dem Weg ins Schlachthaus Fleischkäse.

Begrüssung durch den Schlachtmeister, meinen Führer, dann Vorabinformationen über Hellraumprojektor. Sie sehen hier, wenn das Fahrzeug kommt, wird es auf dem Computer erfasst, alles: Anlieferzeit, Fahrzeugnummer beziehungsweise "interne Tierschutznummer" plus der Chauffeur namentlich plus die angelieferte Menge. Und hier werden die Tiere zwei Stunden aufgestallt, das sehen Sie dann. Er dürfe mich jetzt bitten, diesen weissen Kittel anzuziehen und den Helm: Wir gehen jetzt immer von einer höheren in die nächstniedrigere Hygienestufe. Auf der höchsten kamen die Würste fertig aus einer Maschine. Die Verpackerinnen berührten sie kurz mit weissen Handschuhen. Auf einer Art Aussichtssturm sass in einer Kabine ein Mann und überblickte die Packerinnen. Sodann stiegen wir hinunter auf die nächste Hygienestufe. Hier sah ich an kompliziert vernetzten Förderschienen zahllose rohe Fleischstücke wie durch den Raum schweben.

Ich schaute von oben auf das Schienengeflecht herab, es war bevölkert von Männern, die weisse Hüte trugen und jedes Fleischstück mit bösartigen Messern öffneten. Und hier, sagte der Schlachtmeister, sehen Sie, wie vorzerteilt wird. Sie sehen die Schlachthälften, sagte er wahrscheinlich - es war viel Lärm von den Motorsägen, den Haken, die aufs Blech knallten -, die Schlachthälften, die dieser Arbeiter vorzerteilt. Hälften von Schweinen baumelten an Haken in langer Reihe, wie ein Vorhang, der zu den Sägearbeitern gezogen wurde. Auf dem Förderband kamen mir grob behauene grosse Stücke entgegen, aber zweigten, bevor sie mich berührten, zu den Spaniern ab, Portugiesen, sehr vielen Türken, die entknorpelten und Hüftknochen in ein Bodenloch warfen.

Und hier kommt das qualitativ hochwertige Wurstfleisch aus der Feinzerteilerei direkt in den Brühkessel. Vom Band tropften kleine feuchte Stücke. Der Boden war glitschig; man ging auf einem dünnen Film zermalmter Schnecken, schien mir. Ich sah grosse Schubkarren voller roter Chips. Hier sehen Sie Blutplasma, sagte der Schlachtmeister. Vor einem Karren mit, wie mir schien, schmierigem Abfallfleisch blieb ich stehen. Das gebe Pizzaschinken, sagte der Schlachtmeister. Er führte mich nun durch kalte, feuchtelnde Gänge auf die zweitniedrigste Hygienestufe hinunter. In dieser Halle schrie ich: und das und das da? Beim Hereinkommen hatte ich Dampf gesehen, war in feuchten, warmen Dampf gekommen und hatte geschrieen, woher der Dampf komme. Der kommt aus den Schweinen, das ist ihre Wärme, wenn sie zerteilt werden. Es stank - aber wonach nur? schrie ich, denn es kreischte, das waren die Sägen, und im Dampf brüllte etwas, Wasser zischte, und der Gestank kommt aus der Borstenbrennmaschine, aus der Trommel kommt der Lärm der Schlachtkörper, die über die Gasflamme rotieren, dort spritzen Flammen heraus.

Und das? Das sind auf der Rampe hinter dem Kordon aus rauchenden Schweinshälften die Jugoslawinnen, die an etwas anderes denken, wenn sie einen Stift ins Fleisch drücken, um Fettgewebe zu entnehmen fürs Labor. Und sehen Sie, hier, sagte der Schlachtmeister, werden die Tiere gewaschen, bei bestimmter Wassertemperatur. Und hier schlitterten sie aus der Borstenbrennmaschine, und hinter dieser Tür schrie etwas; panisch fragte ich, sind das Haare? Ist das Blut? Diese Halle war ernst, die Naht zwischen Fleisch und Tier, ein Übergang, der sich vollzog mit schärfster Unausweichlichkeit. Hier sehen Sie, wie der Arbeiter die Augen aussticht, gleichzeitig hörte ich die Schlachtung. Wenn Sie den Auslad sehen wollen, müssen wir uns sputen, sagte der Schlachtmeister. [...]

Und hier sehen Sie, sagte der Schlachtmeister, die Aufstallung. Die neu angekommenen Schweine kamen in ein Gatter. Was ist das? fragte ich. Die Zauberflöte, sagte der Schlachtmeister, von Mozart. Arie der Königin der Nacht, spitze Koloraturen im Sprühregen der Sprenkleranlage, sanft berieselte Schweine, geduscht und besungen. Wagner sei ungeeignet, sagte der Schlachtmeister: Die Tiere sollen auf die Schlachtbank als entspanntes Qualitätsfleisch.

Sie schnüffelten schläfrig in die Luft, die Königin schaukelte hypnotisch auf ihrer Mondsichel. Das Loch in der Wand war die Öffnung zum Schlachtband. Ein Spanier verkürzte das Gatter, die Zeit war jetzt um. Jetzt musste Schnitzel [Reichlins Bezeichnung für das Schwein, dessen Leben er in seiner Reportage verfolgt] durch das Loch in der Wand. Das war eng, dunkel; nicht jedes wollte sogleich hinein. Da musste der Spanier es mit der Klatsche zwingen. Während die einen im Loch verschwanden, rannten die anderen durcheinander, suchten Auswege.

So, und das ist die Betäubungsbucht, sagte der Schlachtmeister. Hier sehen Sie das Schlachtband. Das war eine Röhre, gestopft mit Schweinen. Der Lärm kommt von den Betäubungskörben und den Schreien. In der Röhre bewegten sich die Schweine zwei Leiber vorwärts, stauten sich, warteten, rückten vor und waren an der Reihe. Hier sehen Sie die Betäubungskörbe. Das waren Gondeln, ein kleines Riesenrad. In die eine stiegen zwei Schweine, aus der anderen rutschten zwei bewusstlose Schlachtkörper auf ein Blech. Für zwei war die Gondel zu eng, vor Furcht kroch das hintere auf den Rücken des anderen. Die Doppelbelegung fördere die Beruhigung der Tiere, sagte der Schlachtmeister. Und diese Löcher in der Buchtwand, sehen Sie, habe man herausgestanzt, weil Schweine gerne ins Helle laufen.

Durch die Löcher schaute ich in die Gondel; sie schwebte hinunter in den Schacht, die Schweine staunten, schwebten zum ersten Mal, bis sie mit der Gondel im Kohlendioxyd-See versanken: Sie brüllten mit verdrehten Augen; zuunterst im Schacht zitterten sie wie durchgeschüttelt. So schlafen sie ein, sagte der Schlachtmeister. Ein Wissenschaftler aus Deutschland habe im Selbstversuch in einem solchen Korb bewiesen, dass die Betäubung mit CO2 human sei. Eins sperrte sich, vielleicht Schnitzel, stand mit den Vorderbeinen schon in der Gondel, mit den hinteren noch auf dem Schlachtband, verankerte sich, verstopfte den Produktionsfluss. Ein Arbeiter stach es mit einer Art Morgenstern. Das sind Dornen, aber stumpfe, sagte der Schlachtmeister. Das Schwein krümmte sich, konnte aber nicht zurück und wollte nicht nach vorn, die blockierte Gondelanlage surrte, der Schlachtfluss stockte, der Jugoslawe, der die betäubten Schweine an die Haken hängt, hatte nichts zu tun, und der Portugiese wechselte die Waffen, rammte einen Stock in die Flanke des Schweins oder prügelte es, Schläge auf den Kopf, Rücken, bis es sich mit einem Schrei in die Gondel flüchtete. Endlich. Die Klappe schnappte zu, die Gondel war frei, sich zu senken.

Erleichtert sprach der Schlachtmeister vom typischen Demonstrationseffekt: So etwas geschehe sonst nie, aber wenn man jemandem den Betrieb zeige, geschehe es mit Sicherheit. Und sehen Sie hier, dieser Mann hängt die betäubten Schweine auf. Er trieb einen Haken durch beide Fussgelenke. Kopfüber baumelten die Bewusstlosen an der Förderschiene in den eigentlichen Tod. Ein Gastarbeiter steckte ihnen einen mit Speerspitze versehenen Schlauch mühelos in den Hals. In den Schlauch verbluteten sie. Ist es genug, nimmt er die Spitze aus dem Hals und steckt sie bis zur nächsten Sau in die Halterung, wobei aus den Speerspitzen Blut sprudelt über seine Hände. Über einem gekachelten Trog hängen die geschlitzten Schweine aus, rote Fäden am Hals. So, sagte der Schlachtmeister, ich darf Sie jetzt bitten.



Aus: 1992.02.14 Die Zeit Nr. 14 - Linus Reichlin Text "Leben eines Schnitzels"