Text "Es ist nie zu spät" (Franz Hohler)
Aus dem Buch Hin- und Hergeschichten (1986).
- Ein junger Mann und eine junge Frau sassen auf einer Parkbank und liebkosten sich heftig. Neben ihnen sass ein älterer Mann mit einer Glatze und seufzte. "Das ist ja für mich alles vorbei", sagte er sich, dachte an seine über dreissigjährige Ehe und schaute voll Ekel zu, wie sich die Hand des jungen Mannes in die Hüfte der Frau krallte. Plötzlich dachte er: "Warum eigentlich? Wieso sollte auf mich keine Frauenhüfte warten, in die ich meine Hand krallen kann?" Und er stand auf und ging in die Hemdenabteilung eines Warenhauses, wo eine ältere Verkäuferin mit kurzgeschnittenen grauen Haaren und blauen Augen wirkte, die ihm schon aufgefallen war.
- Ohne Umschweife fragte er sie, ob sie mit ihm nachtessen wolle, eine Einladung, die sie gleich annahm, denn auch sie hatte gerade an ihre dreissigjährige Ehe gedacht und sich gefragt, was eigentlich die Hemden sollten, die sie all den Männern verkaufte.
- Sie gingen zusammen in einen Landgasthof, wo sie auch die Nacht über blieben, und der Mann krallte seine Hände in die Hüften der Frau, dass es eine Freude war.
- Von nun an ertrug er den Anblick eines Liebespaares wieder, ja er musste sogar lächeln, wenn er über die Parkbänke schaute, und die Frau verkaufte ihre Hemden mit ungewöhnlichem, fast saloppem Schwung.
- Die Ehepartner der beiden jedoch, was war mit denen?
- Es tut mir leid, aber die interessieren mich nicht.