Text "Die Norne" (Franz Hohler)

Aus Ugugu
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Aus dem Buch Da, wo ich wohne (1993).




Auf der Tessiner Alp, wo wir einen alten Stall haben, müssen wir das Wasser am Bach holen. Manchmal aber, im Frühling oder nach längeren Regenfällen, fliesst auch eine kleine Quelle ganz nahe beim Stall, und das Wasser, das direkt aus dem Boden in eine Granitfassung quillt, die jemand vor hundert oder mehr Jahren hier eingerichtet hat, ist das beste der Welt.
Diesen Frühling floss die Quelle so schwach, dass ich das Wasser vom untersten Stein über ein Blättlein in die hingehaltene Flasche leiten musste. Das tat ich mindestens zweimal am Tag, und Ursula und Kaspar lächelten darüber, aber das Wasser tranken sie gern.
An einem Abend kam ich mit zwei Flaschen zurück und stellte sie auf den Querbalken, der unsern Wohnraum auf Hüfthöhe in zwei Teile trennt. Die eine Flasche tranken wir leer, die andere stiess Ursula nach dem Essen versehentlich um, so dass siezu Boden fiel und zerbrach.
Etwas verärgert schob ich den Tisch weg und begann mit Kaspar die Glassplitter wegzuwischen und das Wasser am Boden mittels alten Zeitungen aufzunehmen, während Ursula draussen das Geschirr wusch. Ich glaube, einer von uns benutzte auch das Wort "Katastrophe". Als diese einigermassen behoben war, liessen wir den Tisch aus Bequemlichkeit dort stehen, wohin ich ihn verschoben hatte, setzten uns darum herum und machten einen Jass. In der zweiten Runde, als ich am Verlieren war, löste sich ein Stützbalken aus dem Dach und fiel mit einem bösen Knall dorthin, wo vorher der Tisch gestanden hatte, genauer dorthin, wo beim Nachtessen Kaspar gesessen war. Hätte der Balken seinen Kopf getroffen, er hätte ihn erschlagen können.
Es dauerte eine Weile, bis wir merkten, dass der Tisch nicht am gewohnten Ort stand, und es dauerte nochmals eine Weile, bis wir merkten, dass er dort nicht stand, weil Ursula versehentlich eine Flasche umgestossen hatte, die mit Wasser gefüllt war, das ich über ein Blättlein von einer schwach tropfenden Quelle in den Flaschenhals gelenkt hatte.
"Scherben bringen Glück", sagte Kaspar, und ich, als ich nachts erwachte und rasch hinausmusste, sah auf einem Mäuerchen unserer Alp eine dunkle Frau sitzen.
Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, warum sie dort sass. Sie schaut dem Spiel unseres Lebens zu, all unsern kleinen Taten und Verrichtungen, die oft das Ende einer Kette von Launen, Zufällen und Dummheiten bilden. Bei tausendundeinundvierzig unserer Handlungen schaut sie zu und tut nichts, aber bei der tausendundzweiundvierzigsten steht sie plötzlich auf und zeigt mit dem Dauemn nach unten, oder, wenn wir Glück haben, nach oben. Dann setzt sie sich wieder auf ihr Mäuerchen und schaut auf die steinernen Häuser und auf die Lichter im Tal, als ob nichts geschehen wäre. Wenn der Tag kommt, ist sie schon woanders. Neben einer Strassenkreuzung, in einer Fabrikhalle, oder bei dir, vielleicht.