Text "Darf ich Ihnen etwas vorlesen?" (Franz Hohler)
- Eine Szene für einen Vorlesenden und einen Zuhörenden
- A Sie!
- B Ja?
- A Darf ich Ihnen etwas vorlesen?
- B Ja, gern.
- A Wirklich?
- B Ja, wirklich. Es ist heute ja nicht mehr üblich, dass man sich etwas vorliest.
- A Eben.
- B Und gerade deshalb lass ich mir gern etwas vorlesen.
- A Also, wenn Sie meinen...
- B Bitte.
- A Dürfte ich Sie dann bitten, Platz zu nehmen?
- B Wieso?
- A Oder wollten Sie stehend zuhören?
- B Ja.
- A Aha. - Glauben Sie, dass das geht?
- B Wie lang ist denn das, was Sie mir vorlesen wollen?
- A Nicht lang. Es steht alles auf diesem Blatt.
- B Dann geht es.
- A Meinen Sie?
- B Bestimmt. Wenn es nicht länger ist.
- A Es ist nicht länger.
- B Dann geht es.
- A Für Sie.
- B Ja, für mich geht es.
- A Aber für mich nicht.
- B Warum nicht?
- A Irgendwie widerspricht sich Zuhören und Stehen. Zum Zuhören gehört das Sitzen.
- B Ich habe aber keine Lust, mich zu setzen.
- A Dann könnten Sie sich vielleicht etwas gelockerter hinstellen.
- B Ich bin gelockert.
- A Nicht genügend. Ihre jetzige Haltung würde ich als stramm bezeichnen. Sie sollten, damit man Ihnen glaubt, dass
Sie zuhören, mindestens das Kinn in die Hand legen - ja, so! Und den Kopf etwas neigen, auch.
- B So?
- A Fast. Sie müssen jetzt noch den Ellbogen auf die Hüfte stützen und die Hüfte leicht einknicken.
- B Jetzt?
- A Ja, jetzt! Jetzt habe ich das Gefühl, Sie hören mir zu. Also, dann fange ich an.
- B So kann ich aber nicht lange bleiben.
- A Es geht ja auch nicht lange.
- B Trotzdem, ich kann keinen Moment länger so bleiben.
- A Dann stehen Sie halt so hin wie Sie wollen.
- B So.
- A Also - können Sie sich nicht ein bisschen von mir abwenden? So, dass Sie mich gerade noch halb im Blick haben? J
a, so! Es stört mich, wenn Sie so parallel zu mir stehen. - Trotzdem glaube ich nicht, dass Sie mir wirklich zuhören. Könnt en Sie den Kopf etwas senken?
- B Ja.
- A Ja! Ja! So werden Sie verstehen, was ich Ihnen vorlese.
- B (kratzt sich)br>
- A Halt! Wieso kratzen Sie sich?
- B Es hat mich gejuckt.
- A Dann kratzen Sie sich zuerst zu Ende, und dann fange ich an.
- B Ich glaube, jetzt muss ich mich nicht mehr kratzen.
- A Sonst kratzen Sie sich ruhig zuerst fertig.
- B Ich habe mich fertig gekratzt.
- A Sie glauben auch nicht, dass es Sie in den nächsten Minuten wieder jucken wird?
- B Ich habe keinen Anlass dazu.
- A Obwohl es Sie soeben gejuckt hat.
- B Es hat mich soeben gejuckt, aber es wird mich nicht mehr jucken.
- A Sind Sie sicher?
- B Absolut.
- A Das ist gut. Ein Kratzen, währenddem ich Ihnen vorlese, würde mich unerträglich stören.
- B Seien Sie unbesorgt. (hebt langsam seine Hand, um sich zu kratzen)
- A (schaut hin)
- B (funktioniert die Bewegung um in eine Haltungsänderung)
- A Jetzt sind Sie richtig entspannt.
- B Dann können Sie ja beginnen.
- A Also, was ich Ihnen hier vorlese, habe ich -
- B Haben Sie?
- A Nein, so geht das nicht. Wenn Sie stehen, wird mir die kleinste Bewegung von Ihnen zur Qual. Bitte, setzen Sie s
ich.
- B Aber -
- A Bitte, setzen Sie sich auf diesen Stuhl.
- B Langsam verliere ich den Genuss an Ihrer Vorlesung.
- A Sie hat ja noch gar nicht nagefangen.
- B Eben deshalb.
- A Aber sie wird anfangen, sobald Sie sich gesetzt haben werden.
- B Und wenn ich mich nicht setze?
- A Dann können Sie mir auch nicht zuhören.
- B Ich höre Ihnen ja zu.
- A Aber nicht so, wie ich will! (schreit) Was ich Ihnen vorlese, ist lyrisch, verhalten, leise, zerbrechlich
- und Sie stehen herum wie ein Klotz.
- B Jetzt ist mir die Freude endgültig vergangen.
- A Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Ich lese vor, Freude hin oder her. Setzen Sie sich!
- B Mir ist alles egal. (setzt sich)
- A Halten Sie Ihre beiden Hände hoch!
- B Sonst noch was?
- A Strecken Sie die Zeigefinger aus und ballen Sie die übrigen Finger zusammen!
- B Und dann?
- A Drücken Sie mit den Zeigefingern die Ohren zu!
- B (tut es)
- A Hören Sie noch etwas?
- B (zuckt mit den Achseln)
- A Hören Sie noch etwas?
- B (zuckt mit den Achseln)
- A Hören Sie noch etwas?
- B (zuckt mit den Achseln)
- A Gut. Dann fange ich an.
Aus dem Programm Lieder ohne Musik (1981)