Text "Darf ich Ihnen etwas vorlesen?" (Franz Hohler)

Aus Ugugu
Version vom 4. September 2006, 10:11 Uhr von Michi (Diskussion | Beiträge)
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Eine Szene für einen Vorlesenden und einen Zuhörenden
 
A Sie!
B Ja?
A Darf ich Ihnen etwas vorlesen?
B Ja, gern.
A Wirklich?
B Ja, wirklich. Es ist heute ja nicht mehr üblich, dass man sich etwas vorliest.
A Eben.
B Und gerade deshalb lass ich mir gern etwas vorlesen.
A Also, wenn Sie meinen...
B Bitte.
A Dürfte ich Sie dann bitten, Platz zu nehmen?
B Wieso?
A Oder wollten Sie stehend zuhören?
B Ja.
A Aha. - Glauben Sie, dass das geht?
B Wie lang ist denn das, was Sie mir vorlesen wollen?
A Nicht lang. Es steht alles auf diesem Blatt.
B Dann geht es.
A Meinen Sie?
B Bestimmt. Wenn es nicht länger ist.
A Es ist nicht länger.
B Dann geht es.
A Für Sie.
B Ja, für mich geht es.
A Aber für mich nicht.
B Warum nicht?
A Irgendwie widerspricht sich Zuhören und Stehen. Zum Zuhören gehört das Sitzen.
B Ich habe aber keine Lust, mich zu setzen.
A Dann könnten Sie sich vielleicht etwas gelockerter hinstellen.
B Ich bin gelockert.
A Nicht genügend. Ihre jetzige Haltung würde ich als stramm bezeichnen. Sie sollten, damit man Ihnen glaubt, dass

Sie zuhören, mindestens das Kinn in die Hand legen - ja, so! Und den Kopf etwas neigen, auch.

B So?
A Fast. Sie müssen jetzt noch den Ellbogen auf die Hüfte stützen und die Hüfte leicht einknicken.
B Jetzt?
A Ja, jetzt! Jetzt habe ich das Gefühl, Sie hören mir zu. Also, dann fange ich an.
B So kann ich aber nicht lange bleiben.
A Es geht ja auch nicht lange.
B Trotzdem, ich kann keinen Moment länger so bleiben.
A Dann stehen Sie halt so hin wie Sie wollen.
B So.
A Also - können Sie sich nicht ein bisschen von mir abwenden? So, dass Sie mich gerade noch halb im Blick haben? J

a, so! Es stört mich, wenn Sie so parallel zu mir stehen. - Trotzdem glaube ich nicht, dass Sie mir wirklich zuhören. Könnt en Sie den Kopf etwas senken?

B Ja.
A Ja! Ja! So werden Sie verstehen, was ich Ihnen vorlese.
B (kratzt sich)br>
A Halt! Wieso kratzen Sie sich?
B Es hat mich gejuckt.
A Dann kratzen Sie sich zuerst zu Ende, und dann fange ich an.
B Ich glaube, jetzt muss ich mich nicht mehr kratzen.
A Sonst kratzen Sie sich ruhig zuerst fertig.
B Ich habe mich fertig gekratzt.
A Sie glauben auch nicht, dass es Sie in den nächsten Minuten wieder jucken wird?
B Ich habe keinen Anlass dazu.
A Obwohl es Sie soeben gejuckt hat.
B Es hat mich soeben gejuckt, aber es wird mich nicht mehr jucken.
A Sind Sie sicher?
B Absolut.
A Das ist gut. Ein Kratzen, währenddem ich Ihnen vorlese, würde mich unerträglich stören.
B Seien Sie unbesorgt. (hebt langsam seine Hand, um sich zu kratzen)
A (schaut hin)
B (funktioniert die Bewegung um in eine Haltungsänderung)
A Jetzt sind Sie richtig entspannt.
B Dann können Sie ja beginnen.
A Also, was ich Ihnen hier vorlese, habe ich -
B Haben Sie?
A Nein, so geht das nicht. Wenn Sie stehen, wird mir die kleinste Bewegung von Ihnen zur Qual. Bitte, setzen Sie s

ich.

B Aber -
A Bitte, setzen Sie sich auf diesen Stuhl.
B Langsam verliere ich den Genuss an Ihrer Vorlesung.
A Sie hat ja noch gar nicht nagefangen.
B Eben deshalb.
A Aber sie wird anfangen, sobald Sie sich gesetzt haben werden.
B Und wenn ich mich nicht setze?
A Dann können Sie mir auch nicht zuhören.
B Ich höre Ihnen ja zu.
A Aber nicht so, wie ich will! (schreit) Was ich Ihnen vorlese, ist lyrisch, verhalten, leise, zerbrechlich
- und Sie stehen herum wie ein Klotz.
B Jetzt ist mir die Freude endgültig vergangen.
A Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Ich lese vor, Freude hin oder her. Setzen Sie sich!
B Mir ist alles egal. (setzt sich)
A Halten Sie Ihre beiden Hände hoch!
B Sonst noch was?
A Strecken Sie die Zeigefinger aus und ballen Sie die übrigen Finger zusammen!
B Und dann?
A Drücken Sie mit den Zeigefingern die Ohren zu!
B (tut es)
A Hören Sie noch etwas?
B (zuckt mit den Achseln)
A Hören Sie noch etwas?
B (zuckt mit den Achseln)
A Hören Sie noch etwas?
B (zuckt mit den Achseln)
A Gut. Dann fange ich an.



Aus dem Programm Lieder ohne Musik (1981)