1996.03.30 Der Bund "Zwüsche nüt u zwüschem Läbe"
Autor | Brigitta Niederhauser |
Veröffentlichung | 1996.03.30 Der Bund S. 18 |
"Zwüsche nüt u zwüschem Läbe"
Stiller Has / Heute erscheint das neue Album Moudi
Hartnäckig unterhöhlt das Duo Stiller Has die Berner Mundartrocklandschaft - und hebt ab: Zwischen Leintuch, Dählhölzli und Weltall wildern Endo Anaconda und Balts Nill, begleitet von Mich und Frank Gerber, durch schwarze Löcher, Januarlöcher und Sommerlöcher. Ihre reiche Beute dokumentiert die neue CD Moudi.
"Ah, die Meerschweinchen haben gezügelt", stellt Endo Anaconda vor dem leeren Gehege im Tierpark Dählhölzli fest, wo ein junger Mann im nylonigen Freizeitdress an diesem Mittwochnachmittag grosszügig Guetzli für die Geissen an die Kinder verteilt. "Auch so ein Hene, ein ganz lieber Kerl", sagt Endo noch, nachdem ihm der Mann im Freizeitdress erklärt hat, wo die Geissenguetzli erhältlich sind und ihn davor warnt, die Geissen zu berühren, weil sie so stänken. Im Tierpark, wo Endo Anaconda häufig mit seiner vierjährigen Tochter Nina unterwegs ist, begegnet er nicht nur den Prototypen von Hene, dem Abwart, der immer noch von einer Karriere als Rocksänger träumt; im Dählhölzli laufen ihm neben den Meerschweinchen auch Gerichtspräsidenten und Gynäkologen über den Weg, die in den Liedern von Stiller Has auftauchen.
Der Song über den Mikrokosmos an der Aare eröffnet das neue Album Moudi (Sound Service), ein Lied so ungestüm wie eine Liebeserklärung, so heftig wie eine Verwünschung. Doch so ungeduldig Endo den Refrain "dere schöne schöne grüene Aare nah" herausschreit, so sehr mag er die kleine Welt hier. "Als Künstler möchte ich nirgendwo anders leben", sagt er und wischt mit "mich interessiert die Berner Mentalität, weil sie meiner eigenen so ähnlich ist" alle Wenn und Aber vom Tisch.
Hier geboren, aufgewachsen aber in Villach und Wien, tauchte Anaconda 1980 als Ausländer mit Emmentaler Namen und Wienerdialekt in Bern auf, wo er erst zwei Jahre lang die Gemüsegestelle im Shoppyland und in der Mansarde die Notizbücher füllte. Und seit gut zehn Jahren ist Endo nun mit Balts Nill unterwegs. Als Alpinisten erst, dann als Caduta Massi erschütterten die beiden Berns Untergrund mit poetischen, mit schiefer Wiener Grantigkeit durchsetzten Felsstürzen, bevor sie 1989 zum Duo Stiller Has mutierten und mit ihren kühnen Hakensprüngen zunehmend auch die Oberwelt zum Staunen brachten.
"Bin NASA-Has, bin Hastronaut"
Die abgründig leichtsinnigen verbalen Hochseilnummern, die bernische Heimeligkeit mit Wiener Seufzern brechen, provozierten bald in den Feuilletons diesseits und jenseits des Rheins und des Inns Vergleiche mit Ringelnatz, Kurt Schwitters, Ernst Jandl, Thomas Bernhard und Alfred Lichtenstein, Verheissungen, die wiederum letztes Jahr mit Salzburger Stier und Deutschem Kleinkunstpreis begalubigt worden sind. Doch Endo wehrt diese Vergleiche mit ähnlich groben Armbewegungen ab wie sonstige kluge Spekulationen zu seiner schillernden Person. Viel lieber überrascht er mit handfesten Statements zur hiesigen Mentalität: "Analfixiert, sauberkeitsfanatisch, pedantisch und zuverlässig - aber auch grossmütig und liberal, kurz ein Mix, der mir passt." Und offenherzig doppelt er nach, dass er sich für sein Künstler-Hasenleben zurzeit keine schönere, keine begehrenswertere Landschaft vorstellen könne.
"Mit em Füdle über ds Liintuch"
Endo Anaconda träumt weder von Casablanca noch will er vom Belpmoos weggespickt werden: Endo holt sich im Tierpark mit der Aare und den Meerschweinchen das Meer gleich selber, fährt lieber "mit em Füdle über ds Liintuch / u mit em Finger uf de Charte / rund um d Wält" oder setzt sich ins Weltall ab. Seinem Mondmatros auf den Fersen rotiert Endo Anaconda "verlore wie ne Gagu" durchs All und riskiert als verschnupfter NASA-Hase atemberaubend phantastische Abstürze. Und dass er dabei noch richtigen Engeln begegnet, verrät er erst ein paar Songs später. Fällt noch durchs Januarloch, durchs Sommerloch und formuliert mit "I zieh so myni Bahne / zwüsche nüt u zwüschem Läbe / u beides geit uu lang he / u beides isch e Qual" das metaphysische Grausen der neunziger Jahre, ein Grausen, das Mani Matter in den Sechzigern noch auf dem Coiffeurstuhl lokalisierte. Berauscht von der allzu dünnen Luft oder [...fehlende Textstelle...] Apollonier ab. Denn Endo setzt sich mit Haut und Haar und Hirn, und ohne Netz und doppelten Boden dem Rausch der Löcher aus.
Immer grössere und schwärzere Löcher reisst er so in den berner Mundartrock, höhlt ihn aus mit einer Poesie, die sich standhaft allen Etikettierungsversuchen von Dada bis Wiener Schule und berndeutsche Chansons entzieht, die aber von einer ganzen Reihe archetypischer Berner Figuren bevölkert ist. Das Käthi riecht aber nicht nach Schokolade, sondern nach Landwirtschaft und will den Jules und den Jüre, und der auferstandene Moudi Ferdinand setzt zur trunkenen Rückeroberung an, in einer Soundlandschaft, die Balts Nill überaus artengerecht für den stillen wilden Has entwirft.
Eine Soundlandschaft, durch die Endo und Balts nach ganz eigenen Regeln jagen. So sehr sich das Duo gegen eine Live-CD sträubt, so wichtig ist den beiden, dass die Lieder erst auf der Bühne wachsen, bevor sie im Studio landen. "Abgehangen wie ein guter Hasenbraten muss das Material sein", sagt Endo, der mit seiner ungezügelten Improvisierlust Balts aber manchmal ganz gehörig ins Schwitzen bringt.
Irgendwo zwischen Houston und Dählhölzli-Osterglocken wird Endo nämlich eion neues Hene-Kapitel anzetteln: "Als nächstes wird Hene seinen Job als Abwart an den Nagel hängen und Karriere als Rockmusiker machen. Er will's einfach noch einmal wissen, und er macht's mit Fräne und Jüre, und der Schämpu verlegt das Ganze. Elvira und Käthi singen zum Plausch im Backgroundchörli mit. Und wenn er dann richtig berühmt ist, der Hene, kommt er auf Telebärn und im Bärner Bär", pro-[...Textstelle fehlt...]
Die Dynamik zwischen dem mächtigen Endo, der auf der Bühne gern mal zu Flaschengeistdimensionen aufläuft, und dem schmalen korrekten Balts prägt denn auch die ganze Show des Stillen Hasen. Balts, im blütenweissen Hemd, die Hände manikürt und immer ein wenig indigniert wegen Endos Salatsaucenflecken auf dem Jacket und seinen Ausbrüchen, beobachtet mit der angespannten Zurückhaltung eines Irrenwärters den mächtigen Endo-Hasen, der immer ausser Kontrolle zu geraten droht. Dazu bedient Balts mit beunruhihender Nachlässigkeit ein ziemlich irritierendes Musikinstrumentarium, ein hübsches Therapieangebot aus Schwingbesen, Trommeln, Schlagzeug, Ukulelen, Plastikgitarren und -rasseln, das darüber hinwegtäuschen soll, dass er links in der Tasche eine Pistole und rechts eine Beruhigungsspritze hat. "Er ist der Heiligste aller Scheinheiligen", sagt Endo über Balts. "Er trägt einen Heiligenschein, weil er's mit mir aushält."
Er hält's nicht nur seit über zehn Jahren aus, er komponiert und arrangiert auch den perfekten Sound für Endos Wortgewitter, ein Stiller Hasen-Sound, der mit Moudi noch spröder, raffinierter und hinterhältiger geworden ist: Eine bedrohlich blendende Western-Maulgeige zwingt Meerschweinchen und Gerichtspräsidenten gleichermassen zum Blinzeln, mit hochprozentigem Blues wird der Moudi gemästet, Schrummendes jagt den Wilden Has durch Countryrock, viel Raspelndes und sphärisch Sägendes den "Hastronaut" durchs All.
"Auch Niki Lauda..."
Dass Stiller Has ein ausbaufähiges Modell sei, habe er 1989 sofort gemerkt, sagt Endo heute, der das scheue Tier zu immer kühneren Metamorphosen provoziert. Und tritt er zwischendurch im GT-gestreiften Motorex-Kombi auf und snifft gefährlich nah den Formel Eins-Dunst, so passt auch das in sein Hasen-Panorama: "Auch Niki Lauda ist ein Stiller Has..." Endo selber hat das Fahren und den Brotjob als Chauffeur bei Behindertentransportdienst Tixi aufgegeben, Balts das Unterrichten. Dank dem Erfolg der CD Landjäger (Sound Service), die an die zehntausend Mal verkauft worden ist und der dazugehörigen Tournee.
Mit Mich Gerber am Kontrabass und Frank Gerber an der Gitarre mischen nun noch zwei der vielseitigsten und beeindruckendsten Musiker der Berner Szene im Hasen-Spiel mit. "Mich, die Skulptur mit dem Paddelboot, dem Kontrabass, und Frank, mit dem leidenden Gesicht und in der Mitte der Irrenwärter Balts...", freut sich Endo auf die "Moudi"-Konzerte, die eine ganz neue Dynamik versprechen.
Konzerte, an denen sich Anaconda wieder so kühn durch alle Dimensionen switchen wird, Houston, Bern und den Rest der Welt mit einer der genialsten Zeitreisen austrickst: "Ah, gottseidank, jetzt bist du wieder da / dann schauen wir, dass du vorgestern nicht in die Rakete steigst, dann bist du gestern wieder da und dann sagst du mir heute um vier Uhr früh / was machst jetzt am Toaster, Hasi / und am Schoko-Osterhasi, Hasi".
"Moudi-Tour"
Die ersten 27 Konzerte ihrer "Moudi"-Tour tritt das Duo Stiller Has (Balts Nill, zweiter von links, und Endo Anaconda, zweiter von rechts) zusammen mit Mich Gerber (links) und Frank Gerber (rechts) auf, mit denen es auch [...Textstelle fehlt...] und 4. April im Wasserwerk. Weitere "Moudi"-Auftritte im Kanton Bern: 13. und 14. April im Café Mokka Thun, 3. Mai im Gaskessel Bern, 31. Mai, 1. und 2. Juni in der Mühle Hunziken. Am 8. Juni gastiert Stiller Has ohne [...Textstelle fehlt...]