1992.03.07 Berner Zeitung "Eine Schrottmusik mit Balabala-Effekt"
Autor | Alice Baumann |
Veröffentlichung | 1992.03.07 Berner Zeitung |
Eine Schrottmusik mit Balabala-Effekt
Der eine Has äussert sich lautstark und ist stadtbekannt, der andere wird oft nicht mal als Bandmitglied erkannt: Balts Nill erfindet die Lieder zu Endo Anacondas skurrilen Texten. Auf der ersten Stiller Has-CD geht die Post ab.
Es waren einmal zwei Hasen, die bekamen von zwei Frauenhänden Gestalt, Jahre später lernte diese Frau einen Mann kennen, der ein Hase war. Keiner aus Ton, aber einer mit Ton. Und weil die beiden Hasen so verschieden waren - gross und pausbäckig der eine, zierlich der andere, beide aber mit einem männlichen Körper -, kursierte fortan die Mär, die Frau, die den kleineren der beiden menschlichen Hasen inzwischen geehelicht hatte, habe die Tiere nach dem Abbild der beiden Männer erschaffen.
Wahr und unwahr
Die Kult-Band Stiller Has ist geradezu prädestiniert dazu, Legenden zum Leben zu verhelfen. Ihre Texte und Lieder sind wahr und unwahr zugleich. Was die beiden Musiker Andreas Flückiger alias Endo Anaconda und Ueli Balsiger alias Balts Nill besingen, könnte sich so oder auch anders zugetragen haben.
Gedanklich zwischen Zytglogge und Mississippi angesiedelt, beschreibt das ungleiche Paar Dinge, die sich überall und nirgends abspielen. Frauennamen, Jahreszeiten, Tierarten und philosophische Phrasen sind Gleichnisse für Stimmungen und Stimmen aus dem Volk und damit auch für das Volk, sind "flüchtige Lieder und fliegende Worte für langohrige Zeitgenossen", wie sie sagen.
Seit Mai 1989 sind sie unterwegs auf ihrer Bären-Löwen-Ochsen-Tour entlang den schweizerischen Nationalstrassen. Als Vagabunden auf dieser Welt Heimatlieder ohne Heimat singend, haben sie entgegen ihrer Absicht Fuss gefasst. Ganz so wie zähe Pflanzen, die entlang der Autobahn wachsen.
Liedzeilen wie "Vater la mi la ga" sind seit Erscheinen ihrer Has-Kassette 1990 geflügelte Worte, ganz so wie "Marmor, Stein und Eisen bricht" es einst waren. Jetzt ist die erste CD des verschrobenen Duos herausgekommen, eine Sammlung von neun eigenen Titeln und zwei Gedichtvertonungen. Titel: Der Wolf ist los. Wie haben zwei so unterschiedliche Charaktere überhaupt zusammengefunden?
"Uns beiden war das grosse Gschleipf und der Lärm des Rock verleidet. Wir mochten aber die Substanz dieser musikalischen Sprache sehr gut." Die Energie, die Frechheit, der Dilettantismus minus der Gigantismus, das sei die wahre Rockmusik, frohlockt Ueli Balsiger. Die Beliebigkeit mancher moderner Musiker könne er nicht ausstehen, meint der isch nach wie vor als Amateur bezeichnende Balsiger.
Faszination Gegensätze
Mit einer gemeinsamen Auffassung war ein Anfang gemacht, doch war der Weg bis zur Geburt von Stiller Has noch lang. Er war mit Auftritten anderer Szene-Bands gepflastert: Mit Freejazz- und frei improvisierenden Ad-hoc-Bands und mit eigenen Gruppen. Der literarische Punker Flückiger war damals noch auf dem Gangstertrip, Ueli Balsiger ein überzeugter Alternativer. "Auf Gegensätze fahre ich ab", grinst der Musiker. "Mich fasziniert Bürgerlichkeit, die ins Gegenteil kippen kann. Ich habe eine grosse Affinität zu Leuten, die eine ausgeflippte, überbordende Seite haben, die in Bewegung sind.
Das Komische, Klamaukhafte, Satirische fasziniert den 38jährigen Balsiger nicht erst, seit er die Dichter Kurt Schwitters, Ernst Jandl, Thomas Bernhard und seinen 35jährigen Compagnon Andreas Flückiger kennt. Assoziatives Schaffen hat ihn seit je gepackt. Entsprechend verrückt sind seine musikalischen Einfälle. Auf Schlagzeug, Gitarre, Ukulele und Mundharmonika kreuzt und mixt er zusammen, was und wie es ihm passt.
Nach dem Lustprinzip
Als Kind schon habe er Minimal-Musik gemacht, erzählt Balsiger, allerdings ganz nach dem Lustprinzip und ohne jeden Ehrgeiz. "Ich war zufrieden mit dem, was ich konnte. Zu meiner ersten und einzigen Flötenstunde vergass ich hinzugehen, auf der Gitarre, einer rot-schwarzen Sperrholzschwarte zu 99 Franken, brachte ich es nicht viel weiter. Dafür übe ich jetzt ernsthaft." Er habe schliesslich begonnen, Schlagzeug zu spielen, wobei der Stil seiner Lehrer Peter Giger und Pierre Favre ihn total elektrisiert hätte. "Die Klangsensibilität eines Favre hat mich tief beeindruckt." Trotz ihrer Einflüsse sei er kein reinrassiger improvisierender Musiker geworden, meint er und sagt dann: "Eigentlich gilt meine Liebe ja dem Chanson." Von Mutterseite musikalisch und vaterseits sprachlich geprägt, habe es lange gedauert, bis er diese zwei Vorlieben habe verbinden können.
Not macht erfinderisch
Balsiger ist ein Spätzünder. Sein Weg hin zu stimmigen Lösungen führt, wie er sagt, "über sämtliche Fehler, die man machen kann." Er habe zu vielem ein gewisses Talent, doch verstreiche viel Zeit, bis auch "Resultate" sichtbar würden, gesteht er selbstkritisch. Oft allerdings führt bei ihm gerade scheinbare Not zu kreativsten Lösungen, wie die CD Der Wolf ist los beweist: Als Mitglied einer Rockband ohne Band hat Balsiger gelernt, viele Parts selber zu interpretieren. Es gelingt ihm auch als Solist mehrstimmig im doppeldeutigen Sinn zu spielen.
Wobei Logik und Geschmack in der Musik genauso wenig ein Kriterium sind wie bei den Texten: Auch Flückigers in Berner Mundart und Wiener Idiom geschriebene Poesie lebt davon, aufzuregen und anzuecken, widersprüchlich, schwer und ordinär zu sein und teilweise auch schlicht unverständlich. Doch die Moral von der Geschicht', die gibt es bei Stiller Has nicht. Hauptsache die Songs bleiben dank einem gewissen "Balabala-Effekt" in unseren Herzen und Hirnen haften.
Mir fällt ein Schlüsselsatz von Andreas Flückiger alias Endo Anaconda dazu ein: "D Liebi isch ewig, so lang sie het."
Die CD: Der Wolf ist los (Zyt 4298)
Der nächste Auftritt: Freitag, 27. März, 21.30 Uhr, Café/Bar Mokka, Thun.