Text "Mein Heimatort" (Franz Hohler): Unterschied zwischen den Versionen

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: Um meinen Heimatort zu sehen, muss ich die Augen schliessen.
: Um meinen Heimatort zu sehen, muss ich die Augen schliessen.
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: Ich glaube ihn dann in den Bergen zu erkennen, in einem Tal, wo klare Wasser unter den Felsen hervorquellen und in grossen Wasserfällen über Abgründe in die Tiefe stürzen. In der Nähe muss ein Gletscher sein, über dem sich weisse Gipfel erheben. Was für ein Rundblick von dort oben! Merkwürdig allerdings, wie nahe an meinem Heimatort das Meer liegt, ich höre seine nie erlahmende Brandung und das Gekeife von Möwen. Fischgeruch weht herüber. Woher aber der Kanonendonner? Und der aufsteigende Rauch? Sollte in meinem Heimatort Krieg sein? Es ist mir, als höre ich Kinder weinen, und ich möchte sie trösten. Nein, eine Täuschung - wenn ich genau hinhorche, höre ich Gelächter, Musik, das geräusch von Schuhen auf einem Tanzboden. Oder ist es ein Leichenzug, der die Kirche betritt? Ja, so ist es, nicht eine Handorgel spielt, sondern eine Orgel, und als ich mich unter die Trauernden mische, stehe ich in einer kleinen Kirche in den Anden, in der sich Eingeborene leise, aber eindringlich in einer mir fremden Sprache Geschichten erzählen, und wenn ich mich geduldig zu ihnen setze, verstehe ich sie mit einem Mal, und zu meinem Erstaunen erzählen sie die Geschichten meiner verstorbenen Vorfahren, die auch die ihren waren, und jedes Leben war voller Mühsal, Arbeit und unerfüllter Träume, aber kein einziges Leben war ohne Hoffnung, Zuversicht und Zärtlichkeit, und es wird gar niemand begraben, sondern es wird ein Fest des Lebens gefeiert, und da sitzen sie, meine Vorfahren, unter den Eingeborenen und warten auf mich, in meinem Heimatort im Salzgeruch des Meeres, mitten im Hochland, über dem die Sturmmöwen und Steinadler ihre langen Schreie austauschen.
: Ich glaube ihn dann in den Bergen zu erkennen, in einem Tal, wo klare Wasser unter den Felsen hervorquellen und in grossen Wasserfällen über Abgründe in die Tiefe stürzen. In der Nähe muss ein Gletscher sein, über dem sich weisse Gipfel erheben. Was für ein Rundblick von dort oben! Merkwürdig allerdings, wie nahe an meinem Heimatort das Meer liegt, ich höre seine nie erlahmende Brandung und das Gekeife von Möwen. Fischgeruch weht herüber. Woher aber der Kanonendonner? Und der aufsteigende Rauch? Sollte in meinem Heimatort Krieg sein? Es ist mir, als höre ich Kinder weinen, und ich möchte sie trösten. Nein, eine Täuschung - wenn ich genau hinhorche, höre ich Gelächter, Musik, das Geräusch von Schuhen auf einem Tanzboden. Oder ist es ein Leichenzug, der die Kirche betritt? Ja, so ist es, nicht eine Handorgel spielt, sondern eine Orgel, und als ich mich unter die Trauernden mische, stehe ich in einer kleinen Kirche in den Anden, in der sich Eingeborene leise, aber eindringlich in einer mir fremden Sprache Geschichten erzählen, und wenn ich mich geduldig zu ihnen setze, verstehe ich sie mit einem Mal, und zu meinem Erstaunen erzählen sie die Geschichten meiner verstorbenen Vorfahren, die auch die ihren waren, und jedes Leben war voller Mühsal, Arbeit und unerfüllter Träume, aber kein einziges Leben war ohne Hoffnung, Zuversicht und Zärtlichkeit, und es wird gar niemand begraben, sondern es wird ein Fest des Lebens gefeiert, und da sitzen sie, meine Vorfahren, unter den Eingeborenen und warten auf mich, in meinem Heimatort im Salzgeruch des Meeres, mitten im Hochland, über dem die Sturmmöwen und Steinadler ihre langen Schreie austauschen.




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[[Kategorie:Franz Hohler - Texte]]
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Version vom 2. Januar 2009, 22:54 Uhr

Aus: Entwürfe für Literatur Nr. 15 (September 1998) S. 26




Um meinen Heimatort zu sehen, muss ich die Augen schliessen.
 
Ich glaube ihn dann in den Bergen zu erkennen, in einem Tal, wo klare Wasser unter den Felsen hervorquellen und in grossen Wasserfällen über Abgründe in die Tiefe stürzen. In der Nähe muss ein Gletscher sein, über dem sich weisse Gipfel erheben. Was für ein Rundblick von dort oben! Merkwürdig allerdings, wie nahe an meinem Heimatort das Meer liegt, ich höre seine nie erlahmende Brandung und das Gekeife von Möwen. Fischgeruch weht herüber. Woher aber der Kanonendonner? Und der aufsteigende Rauch? Sollte in meinem Heimatort Krieg sein? Es ist mir, als höre ich Kinder weinen, und ich möchte sie trösten. Nein, eine Täuschung - wenn ich genau hinhorche, höre ich Gelächter, Musik, das Geräusch von Schuhen auf einem Tanzboden. Oder ist es ein Leichenzug, der die Kirche betritt? Ja, so ist es, nicht eine Handorgel spielt, sondern eine Orgel, und als ich mich unter die Trauernden mische, stehe ich in einer kleinen Kirche in den Anden, in der sich Eingeborene leise, aber eindringlich in einer mir fremden Sprache Geschichten erzählen, und wenn ich mich geduldig zu ihnen setze, verstehe ich sie mit einem Mal, und zu meinem Erstaunen erzählen sie die Geschichten meiner verstorbenen Vorfahren, die auch die ihren waren, und jedes Leben war voller Mühsal, Arbeit und unerfüllter Träume, aber kein einziges Leben war ohne Hoffnung, Zuversicht und Zärtlichkeit, und es wird gar niemand begraben, sondern es wird ein Fest des Lebens gefeiert, und da sitzen sie, meine Vorfahren, unter den Eingeborenen und warten auf mich, in meinem Heimatort im Salzgeruch des Meeres, mitten im Hochland, über dem die Sturmmöwen und Steinadler ihre langen Schreie austauschen.