Text "Männedorf" (Franz Hohler): Unterschied zwischen den Versionen

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Aus dem Buch <i>Idyllen</i> (1970).
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: Geschäftiges Leben im Dorfkern, gefällige Eigenheime und weitverstreute, behäbige Bauernhöfe geben Männedorf das Cachet einer blühenden Zürichsee-Gemeinde und lassen die Nähe des allmählich zur Grossstadt heranwachsenden modernen Zürich vergessen.
: &emsp;Dieser Satz steht im Prospekt des Verkehrsvereins, und es lässt sich nicht viel gegen ihn sagen. Ich bewohne hier ein gefälliges Eigenheim, das in der Nähe eines weitverstreuten Bauernhofes liegt. Der Bauer heisst Reithaar, ist sechsundachtzig und macht noch alles selbst. Er ist klein und freundlich und erzählt mit Freude, woran der frühere Besitzer unseres Hauses gestorben ist, de het zvill gfrässe. Wenn Herr Reithaar auf den Kirschbäumen steht, hat man nicht das Gefühl, dass er zuviel esse. Er hat zwei Kühe, aber wie alle alten Zürcher Bauern lässt er sie nie aus dem Stall.
: &emsp;Es gibt hier eine Kirchgemeinde und eine römisch-katholische Kirchgemeinde. Auf jedem weitblickigen Hügel steht ein Bibel- oder Erholungsheim, auch Waisenhäuser und Eingliederungsstätten für Behinderte, nur das Altersheim liegt ein bisschen im Schatten, das kommt aus der Zeit, wo alt werden noch eine Schande war. Das Gemeindehaus hat vor dem Eingang zwei dicke Säulen, die ein Vordach tragen, auf welchem zwei Urnen stehen. Es ist mit "Gemeindehaus" angeschrieben. Briefe aus dem Gemeindehaus beginnen mit der Anrede "Werter Herr!" und enden mit freundl. Grüssen. Wenn sich um einen Sitz in der Schulpflege ein unverheirateter Kanzlist und eine Mutter von sechs Kindern bewerben, dann wird der unverheiratete Kanzlist gewählt, weil er bei der demokratischen Partei ist. Die Gemeindeversammlungen sind gut besucht, ab und zu wird ein Kredit für eine Bushaltestelle angefochten, den man aber doch annimmt. Jedes Jahr bekommt man einen detaillierten Rechnungsabschluss der Gemeinde zugestellt, in dem man genau nachlesen kann, wieviel ausgegeben und eingenommen wurde. Das längste Wort darin heisst Kadaververnichtungsgebühren, diese betrugen im Jahr 1968 Fr. 1461.-. Auffällig ist, wie in solchen Berichten das ganze Dorfleben in verschiedene Wesen aufgeteilt ist, das geburtswesen, das Schulwesen, das Strassenwesen, das Bestattungswesen, das Friedhofwesen. Unter einem Friedhofwesen stelle ich mir etwas vor, das nachts über die Gräber schleicht.
: &emsp;Männedorf liegt am rechten Ufer des Zürichsees und gilt in den Liegenschaftsinseraten als schöne Wohnlage. Die Entfernung von Zürich wird in Autominuten angegeben, bei Männedorf heisst es: 20 Autominuten von Zürich. Ein grosser Teil der Leute, die hier wohnen, wollte eigentlich in Zürich wohnen, wurde aber durch die Wohnungsknappheit hierher abgedrängt und nimmt nun das Glück eines ruhigen Landlebens auf sich. Natürlich gibt es auch Leute, die im Dorf arbeiten, vor allem Orgelbauer, Ledergerber und Alarmtechniker. Von diesen Leuten kenne ich niemanden. Orgelbauer stelle ich mir bleich, mager und leicht durchgeistigt vor, aber mit sehnigen Händen. Das ist wahrscheinlich falsch, denn ich habe hier noch nie jemanden angetroffen, der so aussieht. Die Gerberei hat, wie ich dem 25jährigen Jubiläumsbericht entnehme, in den letzten Jahren vermehrt auf hochmolekulare Polyäthylene umgestellt, riecht aber trotzdem nach Häuten.
: &emsp;Wenn ich krank bin, nehme ich die Hilfe eines Landarztes in Anspruch. Wie Herr Reithaar macht er noch alles selbst, und bei schwierigen Fällen wird er nicht kleinlaut, sondern fröhlich, was auf den Patienten sehr beruhigend wirkt. Ein Spital hat es auch, man sieht oft Krankenschwestern mit verschränkten Armen und über die Schultern geworfenen Jäckchen durchs Dorf gehen, manchmal stirbt hier ein Prominenter, weil das Spital für seine persönliche Pflege bekannt ist.
: &emsp;Da ich aber nicht mit etwas Traurigem schliessen möchte, erwähne ich noch Schwester Rösli. Ihr Mann ist Bahnhofvorstand und spielt in der Freizeit mit Modelleisenbahnen.
 
 
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[[Kategorie:Franz Hohler - Texte]]

Aktuelle Version vom 12. April 2009, 17:37 Uhr


 

 

 

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