Text "Fahren am Rande des Existenzminimums" (Linus Reichlin)

Aus Ugugu
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Seit ich meinen Fiat verkauft habe und in einen kleinen, erotischen Mercedes umgestiegen bin, hat sich meine hierarchische Position auf der Autobahn merklich verbessert. Ich geniesse das, denn mein Leben als Fiat war das eines Omega-Tierchens, eines subalternen Handlangers. Wenn ich mich zum Beispiel auf die Überholspur wagte, also ins Revier des BMW, fiel mich dieser sogleich von hinten an und demonstrierte mir die Potenz seiner überlegenen Lichthupe. "Habt Gnade, Herr", murmelte ich dann jeweils, "mit einem armen, schwachen Auto." Eines Tages allerdings erinnerte ich mich an das "Rote Schülerbüchlein", die Sprüche des Vorsitzenden Mao Zedongs, die ich als Erstklässler gelesen hatte, und ich sagte mir: "Schluss mit der Unterdrückung durch den Papiertiger BMW!" Beinahe wäre ich durch eisernes Verharren auf der Überholspur zum Garibaldi der Fiats geworden, aber dann piepste in mir ein Stimmchen: "Sicher sitzt in diesem BMW eine wohlhabende Frau, die dringend in die Gebärklinik muss. Und du Würstchen stehst ihr im Weg."

Ich war also ein Unterhund: schwacher Motor, Schaltknüppel aus Plastik. Mein ganzes Selbstvertrauen basierte auf meiner elektronischen Parkhilfe, ich dachte immer: "So einen Parksensor haben sonst nur Oberklasse-Mercedes!" Auf Skodas und Renaults blickte ich mit Verachtung herab, denn diese Penner hatten natürlich keinen solchen Parksensor, sie waren die Ärmsten der Armen, einfach ekelhaft. Wenn so ein Sozialhilfe-Skoda auf der Überholspur vorwärts kroch, konnte er von Glück sagen, dass nur ich es war und kein BMW, der ihm Feuer unter dem Arsch machte!

Übrigens war ich Mitglied der Schweizerischen Fiatpartei (SFP), an der mir gefiel, dass sie sich fast ausschliesslich für die Interessen der Mercedes einsetzte, etwa durch die Lancierung der Volksinitiative "Freie Überholspur für Luxuswagen". "Als Fiat", sagte ich mir, "muss man sich nach oben orientieren, dann wird man eines Tages selbst ein Mercedes." Das war jetzt natürlich ein Scherz, mit dem ich ausdrücken wollte, dass ich, wenn es eine solche Volksinitiative gegeben hätte, gegen meine eigenen Interessen gestimmt hätte, weil ich es einfach satt hatte, ein unbedeutender Fiat zu sein. Einmal zum Beispiel fuhr ich zum Service in die Fiat-Werkstatt, wo mir ein junger Automechaniker erzählte, dass es sein Traum sei, einmal in einer Mercedes-Werkstatt zu arbeiten. Nachdem er mir ausserdem erklärt hatte, dass er bei einem Unfall lieber in einem zwanzig Jahre alten Benz sitzen würde als in einem neuen Fiat, fühlte ich mich von der ganzen Welt verlassen.

Heute, wie gesagt, gleite ich in einem erotischen Merzchen auf einem beheizbaren Vollledersitz durch die schweizerischen Verkehrsadern. In respektvollem Abstand folgen mir höfliche BMW. Man gehört jetzt eben dazu und lernt, dass nur der grosszügig sein kann, der alles erreicht hat. Ein Fiat versperrt mir die Überholspur? Als Mercedes denke ich voller Mitleid: "Der arme Kerl gibt sich so viel Mühe und kommt doch nicht voran. Ich werde mal lichthupen, damit er merkt, dass jemand mit ihm fühlt."



Aus: 2001 Die Weltwoche Nr. 51 - Kolumne "Moskito"