Hugo Chávez

Aus Ugugu
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Benutzen Sie Ihre Beine

Der Präsident von Venezuela warnt vor der Zerstörung unseres Planeten.

Anlässlich meines letzten Besuchs in London stellte ich fest, dass Bürgermeister Livingstone eine neue Steuer auf Motorfahrzeuge eingeführt hatte - eine kluge Massnahme, meiner Meinung nach. Warum?

Wann immer ich in eine Metropole oder Grossstadt besuche, führe ich eine Erhebung durch. Ich zähle die Autos. Sie wissen, einem Staatschef geht es wie einem Gefangenen: Er steigt aus dem Flugzeug - Winken, Winken, Winken -, er wird in ein Auto verfrachtet, schwups, zum Hotel gefahren, sieht nur die Strassen, er steigt aus, wird in einen Raum geführt, er wartet, hat zehn Minuten Zeit, macht sich wieder auf, schwups, jetzt ist er angekommen. Von einem Ort zum nächsten. Abends zurück ins Hotel. Das war's.

Was also mache ich? Ich sehe aus dem Fenster und zähle die Autos in New York, Washington, Wien. In jeder grossen Stadt scheinen 96 Prozent der Autos wie Würmer in langen Reihen zu stehen. Sie kriechen vorwärts mit der Geschwindigkeit einer Schildkröte. Pro Kilometer werden dabei ich weiss nicht wie viel Liter Benzin verbrannt, weil sich das Ding kaum bewegt. Sie stecken fest, und sie drehen den Motor nicht ab, weil sie ihn ohnehin gleich wieder starten müssten. Dabei geht es nur um eine Fahrt von vier, fünf Kilometern innerhalb derselben Stadt. In 96 Prozent der Wagen, von denen die meisten für sechs oder doch wenigstens für vier Personen gebaut wurden, sitzt nur eine Person. Drei Meter sind sie lang und zwei Meter breit. Das ist das Extrem des kapitalistischen Individualismus. Jeder will ein Auto, und jeder will damit herumfahren wie ein Idiot: für sich allein Liter für Liter verbrennen und die Atmosphäre verdrecken.

Unglücklich, wer kein Auto hat

Ist dies unsere Schuld? Es ist nicht unsere Schuld. Es ist die Schuld der kapitalistischen Propaganda, mit der wir von Kindesbeinen an via Fernseher gefüttert werden. Ein Kind vor dem Fernseher ist in Gefahr. Es sieht ein schönes neues Auto - toll! Eine leichtbekleidete Frau - sehr nett! Und die Pointe? Das sind die anständigen Menschen! Was nicht gezeigt wird, ist, dass die anständigen Menschen diejenigen sind, die einem behinderten Kind helfen, die sich um Alte und Kranke kümmern oder die ihr Brot mit dem teilen, der keines hat.

Welch seltsames Exempel. Das Fernsehen erzählt uns, die mit den schönen Anzügen und den schicken Autos, das seien die anständigen Menschen. Da fühlt sich jeder, der kein Auto hat, unglücklich; und diejenigen, die die Bahn, den Bus, die öffentlichen Verkehrsmittel nehmen müssen, fühlen sich unterlegen.

Dieses Lebensmodell ist nicht aufrechtzuerhalten. Wissenschaftler haben genau ausgerechnet, was passierte, wenn der ganze Planet den Energieverbrauchsstil der entwickelten Länder des Nordens übernähme. Die USA zum Beispiel stellen nur 5 Prozent der Weltbevölkerung, sie konsumieren aber 25 Prozent der auf der Erde produzierten Energie. Wissen Sie, wieviele Stunden pro Tag die Menschen in Haiti Strom kriegen? Zwei Stunden täglich. Allein der Autosektor der USA verbrennt mehr Benzin als sämtliche Staaten der Karibik zusammen. Und die zerstörten New Yorker Twin Towers verbrauchten mehr Energie als einige Staaten südlich der Sahara. Das ist der reine Irrsinn.

Komplette Idiotie

Wir müssen den Gebrauch von Individualwagen diskreditieren. Die Massnahme, die der Bürgermeister von London getroffen hat, scheint mir sinnvoll zu sein. Wer mit seinem Auto in die Innenstadt von London fahren will, muss eine Gebühr bezahlen. Oder sie steigen eben um auf die öffentlichen Verkehrsmittel.

Benutzen Sie Ihre Beine! Wie oft sieht man Leute ihren Wagen starten, abfahren, eine halbe Stunde im Verkehr stehen, dabei jede Menge Benzin verbrennen, nur um an einen Ort zu kommen, den sie in fünfzehn Minuten zu Fuss hätten erreichen können. Verzeihen Sie meine Worte, aber dies ist komplette Idiotie, völlige Dummheit.

Unser gegenwärtiger Umgang mit der Umwelt, das Management der ungehinderten Energieverschwendung, macht keinen Sinn. Praktisch fensterlose oder mit dickem lichtundurchlässigem Glas abgedichtete Gebäude werden künstlich von ich weiss nicht wie vielen Lampen 24 Stunden am Tag beleuchtet. So geht das nicht. Neun von zehn Autos in den Strassen von London, Wien, Madrid, New York und Caracas - belegt mit nur einer Person. Das ist verrückt.

Für jeden Erdenbürger ein Auto? Brüder, das wird unser Planet nicht überleben, dieses Modell des Kapitalismus, des extremen Individualismus und des konsumistischen Egoismus.

Der destruktive Wachstum-um-jeden-Preis-Glaube, der den Planeten zerstört, ist - um es klar zu sagen - eine Sache für Vollidioten.

(Aus: 2006 Weltwoche Nr. 48. - Auszüge aus einem Artikel "No more voom voom", der in der Vierteljahreszeitschrift The Drawbridge, Issue 2, erschienen ist.)